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Alle Rache Will Ewigkeit

Alle Rache Will Ewigkeit

Titel: Alle Rache Will Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Ich ging die Stufen zum Flussufer hinunter und steuerte auf die Grasfläche zu. Ich brauchte nicht weit zu gehen, bis ich auf eine Polizeiabsperrung traf. Mehrere Polizeibeamte standen um das Bootshaus gruppiert. Es stimmte also. Jess war tot. Sie war eine der herausstechendsten Persönlichkeiten meines Jahrgangs gewesen. Ihre Karriere schien bereits vorgezeichnet – und jetzt war alles vorbei.
    So ein Ereignis bedeutet einen tiefen Einschnitt für alle Mitglieder einer Gruppe. Wir waren weiß Gott keine Freundinnen gewesen, und doch denke ich selbst heute noch mehrmals im Jahr an sie. Bei jeder Regatta der Universität erinnere ich mich daran, wie sie das Ruderteam des Colleges zum Sieg führte. Wann immer ich heute junge Athleten beim Sport sehe, muss ich an Jess denken. Dann bin ich traurig darüber, dass ihre so vielversprechende Laufbahn damals abbrach, und grüble darüber nach, was wohl aus ihr geworden wäre.
    Wenn ich die anderen Studienkolleginnen von damals betrachte, so haben die meisten nichts Besonderes aus sich gemacht. Ein Trost ist das nicht.
    Hatte sie den richtigen Ton getroffen? Der Trick war, aufrichtig zu erscheinen, ohne wirklich etwas von sich preiszugeben. Absolute Ehrlichkeit kam einfach nicht in Frage. Weder für sie noch für andere, die so ein Projekt angingen. In Wirklichkeit war sie verdammt froh über Jess Edwards’ Tod gewesen. Das hatte ihr damals bestens in den Kram gepasst, und selbst jetzt meinte sie, die Welt sei nicht so viel ärmer ohne eine weitere überprivilegierte Toryzicke, die glaubte, die Welt liege ihr zu Füßen. Aber so etwas durfte natürlich auf keinen Fall ausgesprochen werden. Vielleicht funktionierte die romanhafte Schreibweise so gut für sie, weil das, was sie verfasste, wirklich das fiktive Geschehen eines Romans war.
    Abends wusste bereits das ganze College Bescheid. Offenbar war Jess früher als sonst zum Bootshaus gegangen. Eine ihrer Sportskameradinnen hatte berichtet, dass sie sich über ihren Sitz im Boot beschwert hatte. Scheinbar hatte sie da etwas ändern oder ausbessern wollen. Es war neblig, und der Boden war um diese Zeit noch feucht und matschig gewesen. Jess war wohl ausgerutscht und mit dem Kopf auf den Bootssteg geschlagen. Sie verlor das Bewusstsein, stürzte ins Wasser und ertrank.
    Ein tragischer Unfall. So war es überall zu hören, und auch der Leichenbeschauer schloss sich diesem Urteil an. Ich für meinen Teil würde es zu meiner ersten Aufgabe als Vorsitzende des JCR machen, rutschfeste Beläge für den Bootssteg zu fordern. Das würde nur ein kleiner Beitrag sein, aber das Beste, was ich tun konnte, um das Andenken an sie zu bewahren.
    Nichts konnte mich jetzt mehr aufhalten. Ich würde JCR -Vorsitzende werden. Es gab zwar noch andere Bewerberinnen, doch war es eigentlich nur ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen mir und Jess gewesen. Die Wahl drei Tage später bescherte mir einen leichten Sieg. Man hatte kurz darüber diskutiert, die Wahl bis nach der Beerdigung zu verschieben, doch wie so oft hatte die Oxford-Tradition gesiegt. Außerdem hatte die amtierende Vorsitzende bereits das Büro frei gemacht, um sich voll und ganz auf ihr Abschlussexamen zu konzentrieren. Letztendlich kam man zu dem Schluss, Jess selbst hätte nicht gewollt, dass durch ihren Tod die Dinge am St. Scholastika College durcheinandergerieten. Und also verlief alles im Rahmen des normalen Zeitplans.
    So kam es, dass es meine erste Pflicht als neue Vorsitzende des Junior Common Room war, auf Jess’ Beerdigung eine Rede zu halten. Ich sprach über Individualität und die Notwendigkeit einer Opposition, durch die Ideen ausgetestet werden können. Ich verwies auf Jess’ beeindruckendes Engagement und betonte, wie sehr wir sie vermissen würden. Die Rede kam von Herzen, und selbst mich überraschte die emotionale Intensität ein bisschen. Jahre später erinnerte man sich noch an diese Rede, die ich damals in St. Mary the Virgin gehalten hatte; jedenfalls wurde ich noch viel später bei College-Feierlichkeiten auf sie angesprochen.
    Jay erhob sich und verließ ihren Arbeitsplatz am Computer. Auf den nächsten Abschnitt kam es an. Jedes Wort musste sitzen, und deshalb nahm sie sich die Zeit, alles noch mal genauestens durchzudenken. Früher war sie bei solchen Gelegenheiten immer zum Klettern gegangen und hatte während der sportlichen Anstrengung an der Kletterwand die Gedanken wandern lassen. Heute war das nicht mehr möglich. Die Verletzungen, die sie damals bei dem

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