Alle Rache Will Ewigkeit
war gewiss nicht unsere Absicht, Beweise zurückzuhalten. Wie ich damals schon zu Corinna sagte: Wäre auch nur der geringste Verdacht aufgekommen, dass etwas mit Jess’ Tod nicht stimmte, wäre es ihre Pflicht gewesen, zu melden, was sie gesehen hatte. Aber es war nie die Rede davon, dass es etwas anderes als ein Unfall war.«
»Soweit Sie wissen«, erwiderte Charlie.
»Ich glaube schon, dass die Polizei das College damals umfassend informierte und auf dem Laufenden hielt.«
Charlie schüttelte müde den Kopf. Das mochte vielleicht ein beruhigender Gedanke sein, an den Helena sich klammern konnte, aber Charlie wusste genau, dass die Polizei vage Verdachtsmomente niemals gegenüber Außenstehenden äußerte. »In meiner Erfahrung teilt die Polizei einem nur das mit, was man ihrer Meinung nach wissen sollte«, sagte sie knapp. »Corinnas Beobachtung hätte die Ermittlung vielleicht in eine komplett andere Richtung gelenkt.«
Helena lehnte sich zurück und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Ich finde es viel wahrscheinlicher, dass dadurch das College in Verruf gebracht und die betreffende Person zugrunde gerichtet worden wäre.«
»Sie haben ihren Namen noch immer nicht ausgesprochen«, stellte Charlie fest.
»Und ich habe vor, was das betrifft, weiterhin diskret zu bleiben. Corinna mag Ihnen ja vertrauen, aber ich bin da leider nicht so unbesorgt. Woher soll ich wissen, ob Sie das hier nicht alles heimlich mit irgendeinem supermodernen elektronischen Spielzeug mitschneiden? Ich habe nicht vor, mich in eine Verleumdungsklage hineinzumanövrieren.«
»Sie sind schon ein ganz spezieller Fall, Dr. Winter.«
»Das nehme ich als Kompliment, Dr. Flint.«
Charlie schnaubte spöttisch. »So war es aber nicht gemeint. Hat Corinna damals sonst noch etwas gesagt, was für jemanden von Interesse sein könnte, der die Umstände um Jess Edwards’ Tod erneut unter die Lupe nehmen möchte?«
Helena betrachtete Charlie nachdenklich, so als ob sie abwäge, was sie noch sagen könne. »Um ganz ehrlich zu sein, war ich sehr überrascht, dass Corinna überhaupt mit jemandem über diese Sache geredet hat.«
»Etwa wegen des alten Grundsatzes: Ein Geheimnis kann durchaus von zwei Menschen bewahrt werden, wenn eine der beiden Personen tot ist?«
Helena erlaubte sich ein ironisches Lächeln. »In gewisser Weise ja. Aber eigentlich mehr, weil die Studentin, um die es hier geht, Corinnas Schützling war. Genau wie sie zwei Jahre zuvor Sie besonders gefördert hatte. Corinna hatte sie immer in den höchsten Tönen gelobt und keine Kritik an ihr zugelassen. Und dass sie nun etwas auch nur entfernt Kritisches über ihre Musterstudentin äußerte, das überraschte mich sehr. Dass es da um etwas ging, das das Mädchen möglicherweise gefährden konnte, war erstaunlich. Es zeigte, wie sehr diese Beobachtung Corinna verstört hatte.«
»Haben Sie sie darauf angesprochen?«
Helena bedachte sie mit einem ihrer harten, herablassenden Blicke. »Das wäre nicht schicklich gewesen.«
»Aha. Natürlich.« Charlie schüttelte den Kopf. Es war Zeit aufzubrechen. »Eine kleine Sache noch. Warum war Corinna schon so früh am Morgen im College?«
Helena lächelte, doch war nichts Freundliches an diesem Lächeln. »Sie war ambitioniert. Sie wollte unbedingt eine Lebensstellung am College und weigerte sich zu akzeptieren, dass ihre Ausgangsbedingungen für eine College-Karriere hier einfach zu ungünstig waren. Sie war verheiratet, mehrfache Mutter, kam aus Kanada, war katholisch. Das passte nun einmal alles nicht. Darum kam sie immer schon gegen sechs Uhr morgens ins College und arbeitete, bis sie ihre Kinder für die Schule fertig machen musste. Sie war davon überzeugt, durch harte Arbeit alle Widrigkeiten überwinden zu können.«
»Offensichtlich hat es funktioniert. Sie hat Karriere gemacht«, kommentierte Charlie, während sie sich erhob.
»Das hat mittlerweile so mancher hier. Sogar Männer sind aufgestiegen«, antwortete Helena. Das Wort »Männer« klang bei ihr, als meinte sie »Katzen« oder »Affen«.
»Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben«, sagte Charlie abschließend, während sie Richtung Tür ging.
»Ich habe Sie immer für eine brillante Philosophin gehalten und Ihren analytischen Verstand stets hoch geschätzt.« Diesmal war Helenas Lächeln aufrichtig, wenn auch überrascht.
»Aber wir machen wohl alle Fehler«, fügte Charlie hinzu. »In dem Wahn, um jeden Preis das College schützen zu müssen,
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