Alle Rache Will Ewigkeit
dem Start kräftig trinkt, hat man später weniger Gewicht im Rucksack zu schleppen. Kathy strahlte vor Aufregung und Vorfreude, und ich kann mir vorstellen, dass ich ähnlich aussah.
Die Faszination des Bergsteigens kann man niemandem erklären, der es noch nie selbst versucht hat. Nichts in meinem Leben kommt dem gleich. Ich saß einmal in einer Berghütte neben einem schottischen Schriftsteller, der diese Leidenschaft verglich mit dem Gefühl, wenn es mächtig gefunkt hat und man weiß, man hat einen ganz besonderen Menschen kennengelernt und ahnt, dass es nun so weit ist. In dieser Nacht wird es endlich passieren … So eine Art Gefühl sei es. Ich habe ihm damals nicht zugestimmt und würde es auch heute nicht tun. Der Unterschied ist offensichtlich. Man geht keine Beziehung mit dem Berg ein. Beim Bergsteigen geht es um die Herausforderung und um den Sieg. Geht es um Liebe oder auch nur um Sex, spielen bei mir andere Gefühle eine Rolle.
Jay lächelte still in sich hinein. Eine weitere kleine Notlüge für Magda. Natürlich war auch die Liebe eine Herausforderung, die es zu meistern galt. In dem Moment, als sie Magda zum ersten Mal als erwachsene Frau gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie sie haben musste. Also ja, es war wie eine Bergtour. Man macht sich bewusst, welche Hindernisse es zu bewältigen gilt, überlegt sich, wie sie am besten zu nehmen sind oder ob man sie umgehen kann. Wenn die Route dann im Detail geplant ist, kann man loslegen.
Aber das Gefühl direkt vor einem Aufstieg war mit nichts zu vergleichen gewesen, auch nicht mit der Eroberung einer Frau. Eine komplizierte Bergtour verlangte höchste Konzentration. Geist und Körper mussten unter äußerster Anspannung synchron arbeiten, damit man dorthin gelangte, wo man hinwollte. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass man bei einer solchen Tour stets in Lebensgefahr schwebte. Die Liebe hat ihre Gefahren, aber sie endet selten tödlich. Eine Bergtour barg dagegen immer die Möglichkeit einer Katastrophe in sich. Jay dachte an die Worte des legendären Bergsteigers Joe Simpson, des Mannes, der mit einem Beinbruch und zahlreichen Erfrierungen einen Berg in Südamerika hinunterkroch, nachdem man ihn in einer Gletscherspalte zurückgelassen hatte, weil man ihn für tot hielt. »Alles ist sicher, bis etwas schiefgeht.«
8
A uf dem Weg zurück zum Haus ihrer Eltern fühlte sich Magda ein wenig verwirrt. Eigentlich war es nicht ihre Art, sich Fremden gegenüber zu öffnen. Aber Charlie Flint hatte etwas Vertrauenerweckendes an sich. Vielleicht war sie deshalb so gut in ihrem Beruf. Oder es war eine Fähigkeit, die sie sich durch ihre Arbeit erworben hatte. War es die Henne oder das Ei?
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Beginn ihrer Beziehung zu Jay außer mit Charlie eigentlich noch nie mit einer Lesbe gesprochen hatte, die nicht zum Kreis um Jay gehörte. Und sie hatte die Gelegenheit ergriffen, über ihre wirkliche Situation zu sprechen, nicht über die Version, die sie für die Öffentlichkeit zusammengeflickt hatte. Magda wurde es in diesem Moment nicht bewusst, aber sie hatte gerade den ersten Markstein ihrer neuen Liebe hinter sich gelassen – und nun regte sich das Bedürfnis, neben ihrer Liebsten weitere Vertraute zu haben.
Als sie sich dem Haus näherte, trübte sich ihre Stimmung erneut. Sie erkannte das Fahrrad ihres Vaters, das jetzt zusammen mit den anderen Rädern der Familie neben der Hintertür angekettet war. Henry war zu Hause. So schlecht es auch mit ihrer Mutter gelaufen war, mit Henry würde es noch viel schlimmer werden.
Als Magda die Küche betrat, schaute Henry von seinem Teller auf und lächelte seine Tochter an. »Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst. Deine Mutter sagte, du würdest einen Spaziergang machen, und das erschien mir …« Er suchte nach dem richtigen Wort. Magda nahm sein leichtes Lallen wahr und wusste, dass er bereits dem Gin zugesprochen hatte. »… untypisch für dich«, beendete er seinen Satz.
Corinna und Catherine beobachteten die Szene aufmerksam. Magda ging zu ihrem Vater und drückte ihm einen Kuss auf seine Stirnglatze. »Ich habe die ganze Woche in stickigen Gerichtssälen zugebracht und brauchte mal ein bisschen frische Luft«, erklärte sie.
Sie schälte sich aus ihrem Mantel und nahm ihm gegenüber Platz. Henry leerte sein Rotweinglas und gestikulierte damit in Richtung Corinna. Sie schob ihm die Rotweinflasche hin, und er schenkte sich großzügig ein.
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