Alle Rache Will Ewigkeit
konzentrieren, damit man sicher sein kann, dass man guten Halt hat, bevor man den nächsten Schritt tut. Diese Angst lässt sich jedoch nicht völlig wegdrücken. Sie pulsiert in den Adern des Bergsteigers zusammen mit dem Adrenalin, das einen weiterklettern lässt. Als ich mich an diesem Tag immer weiter dem Gipfel näherte, konnte ich an nichts anderes denken, als dass ich nichts sehen und hören konnte und dass die Kälte meine Hände und Füße gefühllos werden ließ. Schon nach kurzer Zeit kam ich mir wie ein Automat vor, der nur noch seinem Programm folgt.
Es passierte dann ohne jede Vorwarnung. Das Kletterseil riss so plötzlich und so stark an mir, dass es mich fast vom Berg fegte. Hätte ich keine Spikes an den Stiefeln getragen, wäre ich von der vereisten Oberfläche gerutscht und ins Tal gestürzt. So riss es meinen Oberkörper um, und ich lag über dem schmalen Grat zur Seite gebogen. Die Schmerzen waren nahezu unerträglich. Instinktiv griff ich nach dem Seil, um etwas von dem Gewicht von meinem Körper zu nehmen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mich an der Felswand wieder in eine einigermaßen stabile Position hieven konnte. Endlich konnte ich kurz durchatmen und mir darüber bewusst werden, was eigentlich passiert war.
Sobald ich wieder einen Gedanken fassen konnte, war mir eines klar: Kathy hatte den Halt verloren. Ich musste unbedingt herausfinden, ob sie verletzt war. Wenn sie bei Bewusstsein und nur leicht verletzt war, war eigentlich alles halb so wild. Wir waren beide bestens ausgerüstet und konnten problemlos einen sogenannten Prusikknoten knüpfen, der einem Kletterer ermöglicht, wieder am Seil nach oben zu kommen. Wenn ich das Gewicht halten konnte, würde sie sich Stück für Stück hocharbeiten.
Wenn sie nicht mehr selbständig klettern konnte, würde die Sache kompliziert werden. Mit demselben Equipment, das man für Prusikknoten braucht, konnte man sich auch an einem Felsvorsprung vertäuen, an dem dann das Gewicht des Kletterpartners hing. Wenn ich das mit dem Seil einigermaßen hinbekommen würde, könnte ich versuchen, Kathy zurück auf den Kamm zu hieven.
Im schlimmsten Fall konnte ich das Seil sichern und dann Hilfe holen.
Ich betete, dass mich der Schwindel nicht erfassen möge, und drehte den Kopf, um einen Blick in den Abgrund neben mir zu riskieren. Das Schneegestöber war jetzt so dicht, dass ich das leuchtende Rot von Kathys Jacke kaum noch ausmachen konnte. Soweit ich erkennen konnte, baumelte sie mit herunterhängenden Armen und Beinen im Wind. Ich schrie, so laut ich nur konnte: »Kathy! Kathy!«
Ich glaubte, eine Antwort zu hören, ein leises Stöhnen meiner Kletterpartnerin. Das gab mir wieder Hoffnung. Sie war bei Bewusstsein. Wir würden hier herauskommen. Ich rief wieder und wieder, doch es kam keine Reaktion mehr.
Schweigen.
Verzweifelt rief ich noch ein letztes Mal, aber es gab keine Antwort außer dem Heulen des Windes. Da begriff ich, dass ich von Anfang an nur den Wind gehört hatte und nicht Kathy. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag. Plan A konnte ich also abhaken. Sie musste sich wohl beim Sturz den Kopf verletzt haben. Heutzutage käme es mir nicht in den Sinn, ohne Helm zu klettern, damals machten das nahezu alle jungen Bergsteiger so. Man fühlte sich unverwundbar. An dem Tag damals trugen wir beide keine Helme. Das ist nur eines der vielen Dinge, die ich aus der Rückschau anders machen würde.
Plan B hing davon ab, ob ich einen Ankerpunkt für den Prusikknoten finden konnte. Wenn ich den schrecklichen Druck loswerden wollte, der durch das Gewicht am Kletterseil auf mir lastete, brauchte ich einen stabilen Ansatzpunkt. Ich wusste, dass der Basalt tragfähig genug war, und brauchte lediglich einen kleinen Vorsprung oder eine Zacke im Felsen, um den ich die Schlinge legen konnte. Ich suchte gründlich die ganze Umgebung ab.
Aber da war nichts.
Ich schaute erneut. Doch ich konnte nichts entdecken, was auch nur im Entferntesten den Zweck erfüllen konnte.
Auf dem Weg nach oben waren wir an zahlreichen geeigneten Vorsprüngen vorbeigekommen, doch unglücklicherweise bestand dieser Kletterabschnitt aus ebenen Felsflächen und Vorsprüngen, die einfach nicht geeignet waren, ein Seil daran festzumachen.
Es gab eine letzte Möglichkeit. Die technische Entwicklung hat uns Bergsteiger mit allerlei nützlichem Spielzeug ausgestattet. Wir haben üblicherweise diverse Friends, Hexentrics oder Klemmkeile bei uns, mit denen man selbst die
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