Alle Rache Will Ewigkeit
ich mich an ein kleines Multitool-Messer mit einer kleinen Zange, einer Nagelfeile, einem Schraubenzieher und einer Taschenmesserklinge in meiner Jackentasche. Schon beim bloßen Gedanken schreckte ich zurück. Wenn ich damit das Seil kappte, wäre das Kathys Todesurteil. Aber wenn ich es nicht tat, würde ich uns beide zum Tod verurteilen. Um diese Zeit waren keine anderen Kletterer mehr auf dem Berg. Nicht am späten Nachmittag. Mit irgendeiner plötzlichen Rettung war nicht zu rechnen. Schon gar nicht bald.
Mit den Zähnen gelang es mir, den Handschuh von meiner steif gefrorenen Hand zu ziehen. Ich schob die Hand in die Jackentasche, und meine Finger brannten und kribbelten, als die Restwärme meines Körpers sie etwas erwärmte. Ich umschloss das Messer und zog es heraus. Mit Mühe gelang es mir, das Messer aufzuklappen. Ich zögerte immer noch. Brachte es nicht über mich.
Dann schleuderte mich ein weiterer Windstoß mit Macht gegen die eisige Felswand. Ich hatte keine Wahl mehr. Noch so eine Böe, und es wäre aus mit mir.
Ich kappte das Seil.
Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Jay griff automatisch nach dem Hörer. Erst als sie ihn bereits auf halber Höhe am Ohr hatte, bemerkte sie, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen.
10
C harlie hatte Herzklopfen wie ein Teenager. Die Erregung pulsierte in ihr wie stetige schwache Stromstöße. Die Autofahrt von Nord-Oxford bis zum Dorf Iffley war wie im Fluge vergangen. Als Studienanfängerin hatte sie dieses Ausflugsziel geliebt, war oft hierhergekommen und am Flussufer spazieren gegangen. Es waren immer zahlreiche Boote auf dem Fluss unterwegs: Ruderer auf College-Achtern, die sich im Training quälten, Unerschrockene, die ihr Boot mit der Stange über den großen Fluss stakten, Motorboote und Ausflugsschiffe, die langsam flussauf und -ab fuhren. Der Uferweg hingegen war zumeist menschenleer und führte zu dem ganz unpassend ländlichen Ortsteil Iffley. Wohlhabend, ruhig und eigenständig hatte es sich anscheinend nicht vom unruhigen Leben der Universitätsstadt anstecken lassen. Die Häuser sahen zwar vom Stil her anders aus, nichtsdestotrotz fühlte sich Charlie hier immer an den kleinen Ort in Lincolnshire erinnert, in dem ihre Großeltern gelebt hatten. Wann immer sie in ihren turbulenten Oxfordjahren zur Ruhe hatte kommen wollen, war sie hierhergekommen.
Lisa wohnte zwei Straßenlängen vom Fluss entfernt in einer ruhigen Seitenstraße mit Einfamilienhäusern.
Bei typisch feuchtkaltem Oxfordwetter konnte es hier bestimmt ganz schön zugig werden, doch an diesem Nachmittag streichelten warme Sonnenstrahlen den Asphalt und ließen die Gegend wunderbar einladend erscheinen. Charlie fuhr langsam und betrachtete die Hausnummern, bis sie schließlich das richtige Haus gefunden hatte. Lisas schicken Sportwagen in der Einfahrt erkannte sie gleich, der Toyota Estate gleich daneben war ihr unbekannt. Zwanzig Meter weiter fand Charlie eine Parklücke. Sie schaute auf die Uhr. 15 : 25 Uhr. Drei weitere Minuten blieb sie hinter dem Lenkrad sitzen, dann ging sie zu dem Häuschen zurück und fragte sich, was sie dort erwarten würde.
Bewundernd musterte sie Lisas Haus. In ihrer Studienzeit musste sie Dutzende Male daran vorbeigekommen sein, konnte sich aber nicht daran erinnern. Eigentlich war nichts Besonderes daran – eine leicht mitgenommene rote Backsteinfassade, Ziegeldach und weißgestrichenes Holz –, doch seine Symmetrie und die durchdachten Proportionen schmeichelten dem Auge. Über einer kleinen Veranda mit Holzpfeilern war im Giebel ein kleines rundes Buntglasfenster, dessen Farben selbst im schwachen Sonnenlicht kräftig leuchteten. Die Einfahrt mit den beiden Autos war sauber gepflastert, und direkt vor dem Eingang war ein winzig kleiner Knotengarten mit geschnittenem Buchs. Ein rundum perfektes Bild. Charlie kam sich vor, als sei sie ein störendes Element, einfach nur dadurch, dass sie auf die Haustür zuging.
Sie atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln, denn bei der Aussicht, Lisa in ihrem Haus zu besuchen, fühlte sie sich geradezu wie ein Teenager. Charlie klingelte und machte einen halben Schritt zurück. Unverzüglich waren Schritte zu vernehmen, die sich näherten, und die Tür öffnete sich weit. Lächelnd stand Lisa vor ihr, Charlies Herz machte einen Sprung, und sie ließ sich umarmen. »Es ist so toll, dich zu sehen«, stieß sie hervor.
Lisas Lippen streiften ihre Wange, und ihr warmer Atem kitzelte Charlie am Ohr,
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