Alle Rache Will Ewigkeit
Magda musterte ihren Vater, als wäre es ein Wiedersehen nach langer Abwesenheit, und war schockiert darüber, wie stark er gealtert war. Ihre Mutter erschien ihr stets alterslos, doch ihrem Vater hatte die Zeit übel mitgespielt. Sein dünnes, rötliches Haar hatte an Farbe verloren und war jetzt aschgrau. Sein Gesicht war hager geworden, dadurch traten die hohlen Wangen und seine wässerigen Augen mehr hervor. Sein Teint war immer rosa gewesen, wie bei einem der kleinen Jungen, die er unterrichtete, doch in letzter Zeit war sein Gesicht nahezu tiefrot. Obwohl er erst achtundfünfzig war, wirkte er wie ein altes Wrack. Man brauchte kein Mediziner zu sein, um zu erkennen, dass das vom Trinken kam. Früher hatte sie ihn wegen seines Mangels an Selbstbeherrschung verachtet, jetzt bemitleidete sie ihn.
»Wenigstens haben sich die Geschworenen auf das richtige Urteil geeinigt«, kommentierte Henry. »Nichtsdestotrotz sind sie bestimmt bald wieder auf freiem Fuß. Verdammte Mörder! Viele bekommen kürzere Haftzeiten als Bankräuber. Die Strafe muss doch der Tat angemessen sein.« Er nahm noch einen Schluck Wein und ein paar weitere Bissen von seinem Essen, dann schob er den halbvollen Teller von sich weg. »Du tust mir immer zu viel auf.« Corinna sagte nichts dazu, nahm seinen Teller und kratzte klappernd die Essensreste in die Mülltonne.
»Wie war dein Tag der offenen Tür?«, fragte Magda und erwartete eine Schimpftirade.
Er enttäuschte sie nicht. Sinkende Bildungsstandards, nicht gerade vielversprechende potenzielle Schüler, Eltern in bescheidenen sozialen Verhältnissen, faule Kollegen – sie alle gerieten unter Beschuss. »Gott sei Dank kann ich in ein paar Jahren in den Ruhestand gehen«, schloss Henry.
Seit Magda sich erinnern konnte, hatte er die Jahre bis zu seiner Pensionierung gezählt. Als Teenager hatte sie ihn einmal gefragt, warum er weiterhin blieb, wenn er die Arbeit doch so hasste. Verständnislos und mit stumpfem, vom Alkohol getrübtem Blick hatte er sie angestiert. »Wegen der Pension, du dummes Ding!« Damals schon hatte sie begriffen, wie deprimierend diese Aussage war.
»Wirst du eigentlich gleichzeitig mit Vater in den Ruhestand gehen?«, wandte sich Catherine an Corinna. »Ich wette, ihr schmiedet schon Pläne.«
Corinna reagierte sichtlich verwundert. »Ich habe ja noch ein paar Jahre, Wheelie. Eigentlich habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Natürlich kann ich über das Mindestalter für die Pensionierung hinaus an der Universität bleiben, wenn ich das denn möchte. Und im Gegensatz zu deinem Vater macht mir die Lehrtätigkeit auch noch Spaß. Ich weiß es also nicht.«
»Das verdammte College war dir immer wichtiger als deine Familie«, murrte Henry.
Vielen Dank, Wheelie.
Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war eine der üblichen Streitereien zwischen den Eltern. »Dad!«, mischte sie sich schnell ein. »Ich muss dir etwas sagen. Ich wollte damit bis nach der Verhandlung warten. Jetzt ist die richtige Zeit für einen Neustart gekommen, weißt du?«
Henry lehnte sich entspannt zurück und strahlte. Die Aussicht auf gute Nachrichten von seinem Lieblingskind ließ ihn seinen Groll vergessen. »Das klingt gut. Ein Neustart. Also, was gibt’s? Hast du jemanden kennengelernt? Einen netten jungen Mann, der dir nach all diesem Kummer wieder Hoffnung gibt? Das wurde ja auch Zeit, mein Mädchen. Man kann nicht ewig trauern.«
Magda schloss kurz die Augen und nahm all ihren Mut zusammen. Catherine streckte unter dem Tisch die Hand aus und tätschelte ihr den Oberschenkel. »Ja, ich habe jemanden kennengelernt, aber es ist kein Mann.«
Henry blinzelte sie verständnislos an. »Ich verstehe nicht. Kein Mann? Hat dir jemand eine Stelle angeboten oder was?«
»Nein, Dad. Es geht nicht um eine Stelle. Ich habe mich in jemanden verliebt, aber es ist kein Mann, sondern eine Frau. Ich bin in einer Beziehung mit einer Frau.«
Henry reagierte zunächst verwirrt, dann entsetzt. »Du bist lesbisch?« Man konnte sich kaum vorstellen, dass er mehr Verachtung in drei Worten hätte unterbringen können.
»Ja«, antwortete Magda.
Er schob ruckartig seinen Stuhl zurück und erhob sich; vom Tisch wegtaumelnd fasste er sich mit beiden Händen an den Kopf. »Aber wie kann das sein? Du warst mit Philip verheiratet und hattest doch vorher auch schon Freunde. Das ist purer Wahnsinn.« Er wirbelte herum und funkelte die drei Frauen an. »Jemand hat dich verdorben, deine Trauer
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