Alle Rache Will Ewigkeit
hat – und es ist ein großes Vielleicht –, ist der Pathologe. Manchmal bemerken sie Dinge, die sie nicht in ihren abschließenden Bericht einbeziehen, weil sie zu unbedeutend sind. Oder es sind Details, die nicht nötig sind für die juristische Aufarbeitung eines Falles. Das Einzige, was du vom Obduktionsbericht brauchst, ist der Name des Pathologen, der die Autopsie durchgeführt hat.«
»Und wie bekomme ich den?«
Nick grinste. »Lass das mal meine Sorge sein. Ich mach das. Ich rufe das Kreisarchiv an und beschwatze sie.«
»Würdest du das tun?«
»Es wird eine nette Abwechslung sein.« Er wandte den Blick ab. »Ich befasse mich zurzeit mit Kinderhandel und Prostitution. Alles, was nichts damit zu tun hat, gibt mir das Gefühl, im Urlaub zu sein. Ich erledige es gleich morgen früh. Ich muss vom Büro aus anrufen, damit sie zurückrufen und meine Vertrauenswürdigkeit überprüfen können, sonst würde ich es jetzt gleich machen. Wirst du noch in Oxford sein?«
Charlie wurde bang zumute. Oxford ohne die Aussicht, die Stunden mit Lisa zu vertrödeln. Denn dies konnte sie sich nun nicht mehr erlauben, nicht nach dem, was sie gesehen hatte, mochte es noch so schmerzlich sein, sich abzuwenden. Sie seufzte. »Ja, ich werde noch da sein.«
»Okay. Ich rufe dich an, sobald ich habe, was du brauchst.« Er beugte sich hinüber und goss ihr nach. »Willst du mal hören, woran ich gerade gearbeitet habe?«
Charlie musste lächeln, sie bewunderte seine Fähigkeit, sofort wieder zu seinem eigentlichen Thema zu finden. »Warum nicht?«, sagte sie. Es dürfte auf jeden Fall besser sein, als sich die Auseinandersetzungen in ihrem Kopf anzuhören.
15
Dienstag
A ndere mochten Charlie im Stich gelassen haben, doch Nick hatte sich nicht gedrückt. Kurz nach zehn schickte er ihr eine SMS mit allem, was sie wissen musste:
Dr. Vikram (Vik) Patel. Nach wie vor @ John Radcliffe Hospital.
Wenigstens war Dr. Patel hier vor Ort. Sie konnte versuchen, heute mit ihm zu sprechen, und dann Oxford verlassen, bevor die deprimierte Stimmung, die sich schon zu melden begann, sie ganz erdrückte.
Sich Nicks vielschichtige Gitarrenstücke anzuhören war das letzte angenehme Element ihres Tages gewesen. Im überfüllten Zug war es heiß gewesen, das Essen vom chinesischen Imbiss, das sie auf dem Heimweg zu ihrem trübseligen Gästezimmer am St. Scholastika College mitgenommen hatte, hatte fettig und fade geschmeckt, und Maria war mit einer Kollegin ins Kino gegangen, deshalb konnte sie ihr nicht einmal etwas vorjammern. Als Charlie endlich mit ihr hätte sprechen können, war sie zu müde und hatte keine Lust mehr. Das Einzige, dessen sie sich brüsten konnte, war, dass sie sich von Lisa ferngehalten hatte. Sie hatte sie weder angerufen noch eine SMS oder eine E-Mail geschickt oder ihre Facebook-Seite angeschaut.
Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie unruhig geschlafen. Einmal war sie fast aus dem schmalen Bett gefallen, wachte aber gerade im entscheidenden Moment auf. »Ich schaffe es nicht einmal mehr, ruhig im Bett zu liegen«, sagte sie laut. »Liegt es an mir oder ist wirklich alles so beschissen?« Nach jedem objektiven Maßstab musste sie zugeben, dass es an ihr lag. Manchmal wünschte sie, sie könnte Drogen etwas abgewinnen. Zumindest würde das die Welt von ihr fernhalten.
Das Frühstück war eine Tortur gewesen. Gesichter aus ihrer Studentenzeit zogen an ihr vorbei oder hielten an, um sie zu begrüßen. Vom Personal in der Küche bis zu den Dozenten: Bei allen schien sie einen stärkeren Eindruck hinterlassen zu haben, als ihr bewusst gewesen war. Oder vielleicht war es nur so, dass alle die
Daily Mail
lasen und weniger die Zuneigung als vielmehr Charlies traurige Berühmtheit ihrem Gedächtnis nachhalf. Natürlich waren alle neugierig, warum sie hier war. Gott sei Dank ließen Oxfords Gelehrte und die Bibliotheken immer die bequeme Antwort zu, man »forsche an etwas«. Sogar die in Ungnade Gefallenen konnten sich hinter dieser Ausrede verstecken.
Als sie den Speisesaal verließ, kam Corinna aus dem gegenüberliegenden Senior Common Room. Nachdem sie sich verstohlen umgeblickt hatte, um zu sehen, ob sie unbeobachtet waren, eilte Corinna direkt zu ihr herüber. »Wie kommst du voran?«, fragte sie. Ihr Gesicht wirkte angestrengt, die Augen müde. Charlie konnte sich vorstellen, dass es seit Magdas Geständnis am Sonnabend nicht besonders angenehm zuging im Haushalt der Newsams.
»Es ist nicht einfach«, antwortete
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