Alle Rache Will Ewigkeit
einen Bildschirm und eine Tastatur war. Er bildete eine Barriere für das unbefugte Publikum, und ein dürrer Mann Anfang zwanzig in einem hellblauen Chirurgenkittel saß dahinter. Nicht zum ersten Mal dachte Charlie, dass sie noch nie jemanden getroffen hatte, der im OP -Kittel gut aussah. Das wahre Leben war in dieser Hinsicht immer anders als
Emergency Room.
Der junge Mann schaute nicht auf, als Charlie hereinkam. Sein Blick blieb auf den Monitor konzentriert, seine sommersprossigen Finger huschten über die Tasten. Sie merkte erst einen Moment später, dass er unter dem Schopf buschiger roter Haare Kopfhörer in den Ohren hatte, durch die vermutlich der diktierte Text direkt in sein Gehirn floss. Sie ging näher heran und gestikulierte mit der Hand.
Er fuhr auf und stieß sich vom Tisch ab, als hätte sie ihn geschlagen. »Herrgott«, sagte er und riss sich die Kopfhörer heraus. »Sie haben mich so erschreckt, dass ich fast einen Herzkasper bekommen hätte.«
»Entschuldigung«, sagte Charlie. »Ich suche Dr. Patel. Vik Patel.«
Der junge Mann runzelte die Stirn. »Erwartet er Sie? Er ist nämlich gerade bei einer Autopsie.«
Charlie machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich weiß, ich hätte vorher anrufen sollen. Aber ich war in der Gegend hier und dachte, ich lasse es einfach darauf ankommen.« Sie lächelte. »Haben Sie eine Ahnung, wie lange es noch dauern wird?«
Der junge Mann schien überrascht, als hätte niemand jemals zuvor eine solche Frage gestellt. »Darf ich fragen, wer Sie sind?« Charlie legte wieder ihren Ausweis vor. Diesmal wurde er sorgfältig studiert. Mit ausdruckslosem Gesicht fragte er: »Weshalb wollen Sie Dr. Patel sehen, Dr. Flint?«
»Ich möchte Dr. Patel wegen eines alten Falls sprechen«, antwortete sie. »Ich werde ihn nicht lange aufhalten.«
»Ich werd mal sehen, was sich tun lässt«, murmelte er. Stirnrunzelnd musterte er sie nochmals und schloss das Programm auf seinem Computer, bevor er durch eine Tür hinter ihm hinausging. Charlie setzte sich auf einen der Besucherstühle, schlug die Beine übereinander und wartete.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis der junge Mann zurückkam. »Wenn Sie sich eine Viertelstunde gedulden mögen, wird Dr. Patel mit Ihnen sprechen.« Er starrte sie an, als wolle er sich ihr Gesicht merken, falls er sie irgendwann später einmal bei einer polizeilichen Gegenüberstellung identifizieren müsste.
Charlie lächelte. Ihr Gesicht fing an zu schmerzen von dieser permanenten Freundlichkeit. »Danke. Das ist gut.«
Letzten Endes vergingen fast fünfundzwanzig Minuten, bis die Tür hinter dem Schreibtisch wieder aufging. Ein kleiner, gedrungener Pakistani in grüner OP -Kleidung erschien in der Türöffnung und starrte Charlie an. Er fuhr sich über sein dichtes schwarzes Haar, eine eindrucksvolle, nach hinten gekämmte Mähne, und sein Mund zuckte. »Sind Sie Dr. Flint?«, fragte er.
Charlie stand auf. »Richtig. Dr. Patel?«
»Nennen Sie mich Vik«, antwortete er. »Kommen Sie doch rein. Wir werden uns beeilen müssen. Ich habe vor dem Mittagessen eine weitere Autopsie.«
Charlie folgte ihm in einen sauberen Korridor. Auf halbem Weg drehte er schnell nach links ab in ein kleines Büro. Eine der Wände bestand aus einem langen Fenster, das einen Blick in einen Obduktionssaal bot. Ein Angestellter in einem weißen Schutzanzug und Gummistiefeln war damit beschäftigt, systematisch die Oberflächen zu säubern. Patel schüttelte den Kopf und zog das Rollo herunter. »Nehmen Sie Platz«, sagte er und wies auf einen Klappstuhl, der in einer Ecke eingezwängt am Ende seines Schreibtischs stand. Neben einem schicken Laptop lagen ordentlich aufgeschichtete Papierstöße. Eine Thermosflasche aus Edelstahl und ein Telefon standen neben dem Computer. Charlie konnte sich kein Leben vorstellen, das von einem verlangte, dass man ständig mit menschlichen Überresten umging, aber sie beneidete Vik Patel auf alle Fälle um seine offensichtliche Gabe zum Ordnunghalten.
Er schob seine Brille mit dem schwarzen Gestell auf der Nase hoch und warf Charlie einen fragenden Blick zu. Aus der Nähe sah sie ein paar Silberfäden in seinem Haar und die feinen Fältchen seiner teefarbenen Haut. Er war älter, als sie zuerst geglaubt hatte. »Ich bin etwas verwirrt«, sagte er. »Sie sind Psychiaterin, oder?«
Dieses Detail stand nicht auf ihrem Ausweis. Entweder hatten die beiden sie erkannt oder schnell ihren Namen gegoogelt. Aber Patel hatte sich trotzdem
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