Alle Rache Will Ewigkeit
Charlie. »Du hättest wohl besser einen Privatdetektiv beauftragen sollen.«
Corinna warf ihr einen gewitzten Blick zu. »Der würde es nicht so verstehen wie du. Und er würde dabei nichts riskieren. Ich setze mein Vertrauen in dich, Charlie. Ich weiß, du wirst alles tun, was du kannst, um meine Tochter zu schützen. Halte mich einfach auf dem Laufenden, ja? Ein kurzer Anruf jeden Tag, damit wäre es getan, alles klar?«
»Tut mir leid, Corinna, aber so wird es nicht laufen«, entgegnete Charlie bestimmt. »Ich bringe nicht die beste Leistung, wenn ich das Gefühl habe, dass mir ständig jemand über die Schulter schaut. Überlasse es mir, die Sache auf meine Art und Weise zu betreiben, und ich rede dann mit dir, wenn ich etwas zu sagen habe.« Die Tür des Senior Common Room öffnete sich, und zwei Kollegen traten heraus. Das setzte ihrer Unterhaltung ein Ende und bewahrte Charlie davor, in einen Streit zu geraten.
»Wir sprechen uns bald«, sagte Corinna und ließ frustriert die Brauen sinken.
»Wenn ich so weit bin.« Charlie entfernte sich und fragte sich erneut, warum sie sich in diese Sache hatte hineinziehen lassen.
Als Nicks SMS kam, strich sie um die Reste des alten Bootshauses und untersuchte selbst den Tatort des mutmaßlichen Verbrechens. Er hatte sich seit Jess’ Tod radikal verändert, denn als Ersatz war eine modernere Anlage an der Isis errichtet worden, dem Teil der Themse oberhalb der Schleuse bei Iffley. Das Holz war grau, alt und ungepflegt, alles war schon ziemlich baufällig. Es überraschte Charlie, dass das College das Bootshaus nicht aus dem offenkundigen Grund des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit abgerissen hatte. Aber es stand noch genug davon, dass sie das ursprüngliche Bild heraufbeschwören konnte. Neben der Tatsache des halbverfallenen Zustands war die hauptsächliche Veränderung jene berühmte rutschsichere Oberfläche. Der dem Wetter ausgesetzte Teil des Bohlenbelags war damit bedeckt, aber das ehemalige Grün war nun zu einer stumpfen, schlammbraunen Farbe verblasst, und die Ränder waren nach der langen Zeit ausgefranst. Offensichtlich brachte der Besuch hier nichts. Allerdings belebten sich dadurch die verschwommenen Bilder ihrer Erinnerung. Jetzt konnte sich Charlie den Ort zur Tatzeit viel besser vorstellen.
Und dann war die SMS gekommen, die ihr den Vorwand nahm, noch länger im College herumzutrödeln. Charlie folgte der Marston Ferry Road in Richtung John Radcliffe Hospital und dachte sich während der Fahrt verschiedene Strategien aus. Keine davon erschien ihr allzu vielversprechend. Nur falls Vik Patel das ganze letzte Jahr auf dem Mars gelebt hatte, wäre es möglich, dass er mit ihr reden würde.
Wie die meisten Krankenhäuser wies auch das John Radcliffe seine Leichenhalle nicht auf den Wegweisern für Patienten und Besucher aus. Charlie ging auf den Informationsschalter zu und setzte ihr schönstes Lächeln auf. »Ich suche Dr. Vikram Patel, den Rechtsmediziner. Könnten Sie mir sagen, wie ich zum Obduktionssaal komme?« Dank einer glücklichen Fügung hatte man vergessen, ihr ihren Ausweis vom Innenministerium abzunehmen, den sie ursprünglich bekommen hatte, um Zugang zu Polizeigebäuden zu erhalten. Sie zeigte ihn der Frau am Informationsschalter, die einen flüchtigen Blick darauf warf. Dann zog sie einen Klinikplan zu sich heran, kritzelte etwas darauf und schob ihn dann Charlie hin. »Sie sind hier. Da müssen Sie hin.« Sie deutete auf eine bestimmte Stelle. »Dort ist der Eingang, die Aufzüge sind weiter vorn im Korridor.«
Charlie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte erwartet, dass man sie wegschicken oder zumindest Dr. Patel anrufen würde, um nachzufragen, ob sie erwartet wurde. Vielleicht lief es so gut, weil sie sich Mühe gegeben hatte, in ihrem besten Kostüm und mit dem Laptop unter dem Arm wie eine professionelle Medizinerin auszusehen. Sie hatte fast das Gefühl, eine Glückssträhne erwischt zu haben.
Das Gebäude mit der Leichenhalle war entweder ziemlich neu oder kürzlich renoviert worden. Es vermittelte nicht den Eindruck leichter Vernachlässigung und nüchterner Kälte, den Charlie mit den Räumlichkeiten des National Health Service verband. Die Wände waren sauber, die Türen schlossen richtig, und die Schilder an den Türen waren alle einheitlich beschriftet. Sie folgte den Hinweisen und befand sich schließlich in einem winzigen Empfangsbereich mit zwei Stühlen vor einem Schreibtisch, auf dem kaum genug Platz für
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