Alle Rache Will Ewigkeit
entschlossen, sie zu treffen. Das war wahrscheinlich ein Punkt zu ihren Gunsten, doch trotzdem blieb Charlie auf der Hut. »Stimmt«, sagte sie.
»Sie befassen sich ja per definitionem mit den Lebenden. Ich bin Pathologe und habe mit den Toten zu tun. Ganz ehrlich, Dr. Flint, ich sehe hier keine Gemeinsamkeit zwischen uns.«
Seine Aussprache klang nicht nach Oxford. Er war aus dem Norden, genau wie sie. Leeds oder Bradford, dachte sie und überlegte, ob sie das als Brücke zwischen ihnen nutzen konnte. Aber stattdessen bot sie an: »Nennen Sie mich Charlie«, und startete eine weitere lächelnde Charmeoffensive. »Ich suche nach Informationen, Vik. Über einen alten Fall, mit dem Sie befasst waren.«
»Wieso geht ein alter Fall von mir Sie etwas an?«
Er machte ihr die Sache nicht leicht. Aber warum sollte er auch? »In meinem Metier haben die Menschen die Tendenz, Geständnisse oder Anschuldigungen vorzubringen, die nicht immer der Wahrheit entsprechen. Aber manchmal sind sie wahr, und wir sehen uns gezwungen, uns Fälle noch einmal vorzunehmen, die vielleicht schon vor Jahren abgeschlossen worden sind. Ich habe jetzt einen Fall, bei dem jemand eine Anschuldigung im Zusammenhang mit einem Todesfall erhebt, der als Unfall behandelt wurde. Wenn die Person recht hat, hätten wir es möglicherweise mit einer Mordermittlung zu tun.«
Patel nickte ungeduldig. »Ich verstehe, Charlie. Ich dachte mir schon, dass es um so etwas geht. Was ich nicht verstehe, ist, warum Sie hier sitzen statt eines Kriminalpolizisten. Nach meiner Erfahrung ist doch die Kripo hinter Mördern her.« Wieder fuhr er sich glättend übers Haar.
Es schien eine mechanische Bewegung zu sein, die ihn beruhigte, dachte sie. Sein Haar war unter Kontrolle und ebenso die Situation.
»Es hat keinen Zweck, die Zeit der Polizei zu verschwenden, bis ich weiß, ob es etwas gibt, das sich zu untersuchen lohnt, nicht wahr?« Sie hatte sich diese Ausrede beim Frühstück ausgedacht und hoffte, sie würde sich unter Druck aufrechterhalten lassen.
»Wir möchten nicht die Zeit der Polizei verschwenden, was? Und Sie haben ja nun jede Menge Zeit, nicht wahr, Charlie?« Es war ihm wohl wichtig, mit sich zufrieden zu sein, also schaute Charlie bestürzter drein, als sie wirklich war.
»Ich habe mich gefragt, ob Sie meinen Namen erkennen würden«, erklärte sie. »Es stimmt, dass ich nicht so viel wie gewöhnlich zu tun habe. Dadurch habe ich die Möglichkeit, mir einige Akten genauer anzuschauen, die ich beiseitegelegt hatte.« Sie hob die Arme, die Handflächen zeigten nach oben. Eine Geste der Offenheit und des Vertrauens. »Sie wissen doch, wie es ist. Man hat eben nur begrenzt Zeit, und bestimmte Fälle sind einfach schwerwiegender.« Damit zielte sie direkt auf eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen.
Patel erwiderte ihr Lächeln. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die Wanduhr. »Ich habe noch zehn Minuten. Es interessiert mich, was Ihnen so wichtig ist, dass Sie die Arbeit an Ihrer Verteidigung gegen die Ärztekammer unterbrechen.«
Charlie lachte trocken. »Es ist keine große Sache. Ich habe mit jemandem gearbeitet, der behauptet, er sei Zeuge eines Mordes geworden. Ich bekomme solche Dinge oft zu hören, aber als ich die Aussage der Person überprüfte, entdeckte ich, dass es zu genau der Zeit und an dem Ort, die sie mir angegeben hatte, einen unerwarteten Todesfall gab. Das ist ungewöhnlicher, als man denken würde.«
»Und mit diesem unerwarteten Todesfall habe ich mich befasst? Sind Sie deshalb hier?«
»Kurz gesagt, ja, Vik. Im Obduktionsbericht stand Unfalltod. Die Polizei stellte fest, alle Hinweise sprächen für einen Unfalltod. Aber ich wollte Sie fragen, ob es da irgendwelche Ungereimtheiten gab bei dem, was Sie auf dem Tisch sahen. Irgendetwas, das Sie nachdenklich machte, aber nicht ausreichte, damit die Polizei ihre Richtung änderte.« Mit diesem Satz wollte sie ihn dazu bringen, ihr zu beweisen, dass sie unrecht hatte.
»Die Thames Valley Police nimmt mich ernst«, antwortete er, und die Hand fuhr wieder über sein Haar. »Man übergeht meine Bedenken nicht.«
»Sicher tut man das nicht. Aber wie Sie sagten, wir müssen alle unsere Prioritäten setzen.« Das hatte nicht er, sondern sie gesagt. Aber sie glaubte nicht, dass er dagegen etwas einwenden würde.
»Wann war dieser Fall?«
»November 1993 .«
Patel riss die Augen auf. »Und Sie erwarten, dass ich mich an die Einzelheiten
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