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Alle Singen Im Chor

Alle Singen Im Chor

Titel: Alle Singen Im Chor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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    Meine Bizepsmuskeln schmerzten, ich ging zum Bankdrücken über. Who wants to live forever, fragte der verstorbene Freddie Mercury über die Stereoanlage. Jukka hatte diese Wahl nicht gehabt. And we can love forever. Hatte Tuulia Jukka geliebt? Hatte sie so wenig Vertrauen zu mir, dass sie mir das nicht sagen konnte? Der Gedanke war schmerzlich. Das Gewicht drückte, ich hatte fünf Kilo zu viel aufgelegt. Das passierte mir oft, ich neigte dazu, meine Kräfte zu überschätzen.
    Ich joggte nach Hause zurück, duschte und fing an, meine Wohnung aufzuräumen. Die Lohnarbeit war für heute getan, das schweißtreibende Training hatte ich auch erledigt, aber die schwierigste Aufgabe lag noch vor mir. Ich musste meine Eltern vom Bahnhof abholen und für eine Nacht bei mir beherbergen. Sie würden morgen früh abfliegen, zu ihrem zweiwöchigen Urlaub auf einer griechischen Insel. Das war Jahr für Jahr die einzige Gelegenheit, bei der sie mich besuchten. Obwohl sie beide in Helsinki studiert hatten, empfanden sie die Stadt als riesig und beängstigend und brachten es nicht fertig, allein vom Bahnhof zu mir nach Töölö zu kommen.
    «Na, jetzt sind wir ja mit Polizeieskorte unterwegs», witzelte mein Vater, als wir in die Straßenbahn stiegen.
    «Hast du überhaupt Zeit zum Studieren?», fragte meine Mutter besorgt. Damit meine Eltern es akzeptierten, dass ich die Vertretung bei der Kripo übernahm, hatte ich ihnen vorgeschwindelt, ich würde nebenbei einige Prüfungen ablegen.
    «Auf eine Prüfung hab ich mich vorbereitet.» Das war nicht direkt gelogen. Ich hatte mir in der Bibliothek die Bücher für die Abschlussprüfung in Strafrecht ausgeliehen. Und meine Eltern glaubten nun mal am liebsten das, was ihnen gefiel: Onkel Pena war kein Alkoholiker, er trank nur manchmal zu viel, die Schüler waren nicht wirklich böse, sie kamen aus schwierigen Verhältnissen, ich würde mein Jurastudium abschließen, eine gute Stelle bekommen und einen netten Mann finden. Für mich selbst interessierten meine Eltern sich eigentlich gar nicht, nur für die Kulissen meines Lebens.
    Meine frisch geputzte Wohnung kam mir merkwürdig eng und staubig vor. Zum Abendessen hatte ich Zwiebelkuchen und Salat vorbereitet, dazu gab es Tee. Ich hatte meine Eltern zuletzt an Weihnachten gesehen, das ich pflichtbewusst bei ihnen verbracht hatte. In dem halben Jahr, das seitdem vergangen war, hatten sich auf Mutters Stirn neue Falten gebildet, und Vaters Schultern waren eingefallen. In zwei Jahren wurden sie pensioniert. Der Beginn des neuen Schuljahrs wurde ihnen von Jahr zu Jahr unerträglicher.
    Sie berichteten über Ereignisse in meiner Heimatstadt, die mich kaum interessierten. Ich wohnte seit zehn Jahren nicht mehr dort, die Leute, die mir auf der Straße begegneten, kannte ich nicht mehr. Dann erkundigten sie sich höflich nach meiner Arbeit, und ich antwortete ebenso höflich und vage, berief mich auf meine Schweigepflicht. Sie erzählten mir, an welchen Ausflügen sie teilnehmen wollten, und zeigten mir ein Foto von ihrem Hotel im Prospekt des Reisebüros. Wir sahen uns die Nachrichten und die Sportschau an, ich servierte ihnen den Rest des Kiwilikörs, aber nicht einmal der lockerte die Stimmung. Wir waren alle drei erleichtert, als mein Vater nach den Zehn-Uhr-Nachrichten sagte, es sei Zeit, schlafen zu gehen. Ihr Flugzeug ging um sieben, wir mussten also schon vor fünf Uhr aufstehen.
    Obwohl die vorige Nacht kurz gewesen war, konnte ich nicht einschlafen. Von der knarrenden Schlafcouch waren die schnaufenden Atemzüge meiner Mutter und das Schnarchen meines Vaters zu hören. Es war ein seltsames Gefühl, mit anderen im gleichen Zimmer zu schlafen. Ich war traurig. Auf allen Formularen trug ich unter «nächste Angehörige» den Namen meiner Mutter ein, aber waren wir uns nicht eigentlich fremd? Was wusste ich von meinen Eltern, was wussten sie von mir? Wenn ich plötzlich ums Leben käme, wie Jukka, würden sie den Menschen, dessen Nachlass sie durchsehen mussten, kaum wiedererkennen.
    Daran war ich selbst schuld, keine Frage. Ich besuchte sie nur zweimal im Jahr und gab mich jedes Mal distanziert und selbstsicher. Seit Jahren hatten wir nicht mehr über unsere Gedanken oder Gefühle gesprochen; wie meine Eltern auf die verschiedenen Wendungen meines Lebens reagierten, wusste ich nur von meinen Schwestern.
    Ich hatte ihnen nie ganz verziehen, dass sie eigentlich gar nicht mich gewollt hatten, sondern einen Jungen. Sie hatten sich

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