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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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meiner Turnschuhe herausgezogen und mir zu meinem rasierten Schädel einen flaumigen Bart stehen lassen, traf ich Tim Rainwater. Er sagte im Vorbeigehen »Rudy Robinson?« und ich »Yeah, Rudy Robinson. See ya tonight!«.
    Am Abend holte mich Jerry ab. Bevor wir uns auf den Weg zur Party machten, fuhren wir die Hauptstraße ein paarmal hoch und runter. Jerrys Auto hatte eine bemerkenswerte Vorrichtung, mit der er die Vorderräder gut zwanzig Zentimeter in die Höhe hüpfen lassen konnte. Viele Autos in Laramie hatten so eine Druckluftschleuder eingebaut. Sah man einen Wagen mit Schülerinnen, ließ Jerry sein Auto hüpfen und balzte mit der Kühlerhaube die Mädchen an. Oft kam es an Ampeln zu motorisierten Hahnenkämpfen, wenn mehrere so ausstaffierte Autos aufeinandertrafen. Drei, vier Autos machten laut Pffft, sprangen pneumatisch in die Höhe, und der Wagen mit den Mädchen stand still und wartete auf Grün. Ein anderes Mittel, Konkurrenten zu provozieren und zu demütigen, war das sogenannte ›Mooning‹. Jerry rief: »Look over there: Quentin Skinner! Hold the wheel!« Ich übernahm das Lenkrad, rief: »Yes! Moon that crimp!« Jerry zog sich Jeans und Unterhose herunter und drückte seinen nackten Hintern aus dem Fahrerfenster. So fuhren wir an Quentin Skinner vorbei. Danach suchten wir das Haus, in dem die Party stattfinden sollte. Wir fuhren langsam, versuchten die Hausnummern zu erkennen, sahen es im selben Moment und es gab keinen Zweifel, dass wir richtig waren. Der driveway war vollgeparkt mit Autos. Jeeps und Pick-up-Trucks waren von der Auffahrt direkt in den Garten gefahren, standen in Zweierreihen um das Haus herum. Eine lange Autoschlange säumte die Straße. Jerry lenkte das Auto im Schritttempo am Haus vorbei. In den geöffneten Fenstern saßen überall Menschen, ließen die Beine baumeln. Selbst hoch oben in der vom spitz zulaufenden Dachgiebel eingerahmten Luke saß jemand, beide Beine in der Luft. Wir suchten uns einen Parkplatz und gingen zurück zum Haus. Die Party fand nicht nur drinnen statt, auch in den Autos saßen überall Schüler, hörten Musik, tranken und kifften. Einige kannte ich gut, andere nur vom Sehen, den Großteil gar nicht. Im Garten standen eine Couchgarnitur, mehrere Sessel, Stühle und eine leuchtende Stehlampe zwischen den Autos. Als ich das alles sah, dachte ich, dass es sich dabei um alte, zum Abtransport bestimmte Möbel handeln müsse. Erst im Wohnzimmer begriff ich, dass das Haus leer geräumt worden war, um Platz für eine Tanzfläche zu schaffen. Die Mädchen schrien oder fluchten, da ihnen im Gedränge die Schminke verwischt wurde oder sogar in die Höhe gehaltene Zigaretten die leicht entzündbaren Betonfrisuren zu berühren drohten. Panisch versuchten sie, ihre verwischten Münder im Gedränge nachzuschminken. Dabei wurden sie wieder angestoßen und eine malte sich mit dem Lippenstift einen schmierigen Streifen vom Mundwinkel bis zum Ohr hinauf. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie wirklich verzweifelt waren oder Spaß hatten. Zwei hatten sich auf einem großen Schrank in Sicherheit gebracht und die eine hielt der anderen den Taschenspiegel hin. Innerhalb der Menschenmasse gab es Strömungen, in die man sich hineinwerfen und ins nächste Zimmer tragen lassen konnte. Ich wurde gegen meinen Willen die Treppe hochgedrückt und kam erst mit dem Gesicht an der Wand im Schlafzimmer der abwesenden, trauernden Eltern wieder zum Stillstand. Ich versuchte, mich wieder nach unten treiben zu lassen. Schaffte es aber nicht, mich von der einen Menschenstromschnelle in die andere hinüberzuwerfen. So wurde ich auch noch die nächste Treppe hochgespült und landete auf dem Dachboden.
    Ich erinnerte mich an einen verkaufsoffenen Samstag, eine Woche vor Weihnachten, als die Kaufingerstraße in München kollabierte. Abertausende Menschen konnten nicht vor und nicht zurück und hielten ihrer Weihnachtsgeschenke wie letzte Habseligkeiten bei einer Flutkatastrophe über die Köpfe. Über der Fußgängerzone kreiste ein Hubschrauber. Ein Mann kletterte hinaus, stellte sich auf die Kufe und rief durch ein Megafon: »Bitte bleiben Sie ruhig. Bleiben Sie ruhig! Es besteht kein Grund zur Panik! Bitte benutzen Sie die Eingänge der Geschäfte. Gehen Sie in die Geschäfte. Frohes Fest!« Ich hatte eine Einkaufstasche ins Gesicht bekommen, wollte mein Auge mit der Hand schützen, bekam aber den Arm nicht hoch, so eng war es. Über eine Stunde dauerte es, bis die Menschenmassen von den

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