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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Fahrunterricht geben. Sobald wir die Siedlung erreicht hatten, setzte ich mich hinters Lenkrad und kutschierte ihn nach Hause. Die Uhr im Auto stand auf Viertel nach fünf. Ich brachte Jerry bis zur Tür, steckte seinen Hausschlüssel ins Schloss, gab ihm einen kleinen Stoß und überließ ihn seinem Schicksal. Ich rannte nach Hause. »Na, das war’s dann wohl!«, dachte ich. »Meine letzte Nacht in Wyoming. Besoffen, Fahren ohne Führerschein, die Sache mit Maureen, und Stunden zu spät. Mein Gott, die drei Ds! Was soll ich Stan und Hazel bloß sagen? Die schicken mich gleich morgen zurück. So eine Katastrophe!« Ich erreichte das Haus. In meinem Zimmer brannte Licht. »Oh no! Shit! They are waiting for me! They will send me home! I’m such a stupid asshole.« Ich schlich mich unter mein Fenster. Hob langsam den Kopf. Niemand da. Da bemerkte ich, dass mein Fenster nur angelehnt war. Ganz behutsam drückte ich es auf, kletterte geräuschlos hinein. Der Hund durfte mich auf keinen Fall hören. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Es war mucksmäuschenstill. Wer hatte das Licht in meinem Zimmer angemacht? Wer hatte das Fenster angelehnt? Hatte etwa Don mich gerettet?
    Am nächsten Morgen rutschte ich vor Müdigkeit fast aus der Kirchenbank und schlief beim Knien ein, was aber allgemein als inbrünstiges Gebet interpretiert wurde. Stan und Hazel wunderten sich über meine Kopfschmerzen und Don schwieg auf mysteriöse Weise. Sah, während er seine Hostie lutschte, belustigt zu mir herüber.
    Jeden zweiten oder dritten Tag kam ein ausführlicher, ja ausufernder Brief von Randy Hart aus dem Wyoming State Prison. Alles, was sich über Jahre angesammelt zu haben schien, ergoss sich nun ungebremst in den seitenlangen Briefen an mich. Ich mochte diese Briefe, auch wenn sie sich meistens spiralförmig im Nirgendwo verloren und mit Nichtigkeiten beschäftigten. Randy konnte zum Beispiel eine ganze Seite über die Zubereitung von Kakao schreiben:
    »Wenn du einen Löffel mit Kakao vorsichtig in die Milch tunkst und wieder rausziehst, platzt die nasse, dunkelbraune Außenschicht nach kurzer Zeit wieder auf, und darunter ist der trockene Kakao. Es kann auch zu einer Blase kommen, die, wenn man sie mit der Fingerkuppe antippt, platzt, kreisförmig zum Löffelrand hin aufspringt und den noch trockenen Kakao freigibt. Warum wird nicht der ganze Kakao feucht? Wenn du einen Löffel mit Zucker in den Tee tunkst, ist der ganze Zucker nass. Das Kakaopulver ist ein sehr feines Pulver. Je feiner das Pulver ist, desto besser kann es sich auf dem Löffel vor der nassen Milch schützen. In dem Moment, in dem der Kakao auf dem Löffel mit Flüssigkeit in Berührung kommt, bildet sich eine dünne Kakaohaut, die das Eindringen von Feuchtigkeit verhindert. Der trockene Kakao auf dem Löffel ist durch die schützende Kakaohaut in Sicherheit vor der nassen Milch. Einen gut gehäuften Löffel kann man bis zu fünfmal in die Milch tauchen, bis der gesamte Kakao feucht geworden ist. Es sieht schön aus, wenn die Blase platzt und man plötzlich wieder den trockenen Kakao sieht. Mit kalter Milch geht das besser als mit warmer Milch. Die Wärme der Milch dringt tiefer in den gehäuften Kakao ein. Wenn der Kakao ein billiger Kakao ist, ein grobkörniger und kein guter Pulverkakao, kann man ihn notfalls mit dem Löffel zerdrücken, bis er fein genug ist, um mehrmals die Blase zu bilden. Der beste Kakao ist derjenige, der fein wie Staub ist. Staubkakao. Stell dir mal Folgendes vor: einen Löffel so groß, dass du bequem darin liegen kannst. Du legst dich in den riesigen Löffel und auf dich drauf kommt ein großer Haufen vom allerfeinsten Staubkakao, den es gibt. Eine Apparatur versenkt dich in einer riesigen Tasse mit herrlich frischer kalter Milch. Nach einer Minute wirst du wieder aus der Milch gehoben. Ich bringe mit meinem Zeigefinger die Blase zum Platzen. Da wärst du dann. Könntest dir den Staub von der Hose und aus den Haaren klopfen und wärst vollkommen trocken!«
    Ein Brief über ein vollständiges Frühstück war dementsprechend lang. In den ersten Briefen an Randy hatte ich hauptsächlich von meiner Gastfamilie und vom Basketball geschrieben. Dann immer mehr von meinem Bruder, und schließlich von meiner ganzen Familie. In diesen Briefen an Randy bin ich mir meiner Familie, meiner zu diesem Zeitpunkt durch den Tod meines Bruders in tiefen Schmerz gestürzten Familie, zum ersten Mal bewusst geworden. Wenn ich an meine Eltern, meinen

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