Alle Toten fliegen hoch: Amerika
zusammen. Bestimmt zwanzigmal ging das so. Wenn man seinen Doughnut aufgegessen hatte, durfte man sich einen neuen nehmen. Ich kam auf sieben Stück. Mal schrillte die Klingel los, wenn wir hineinbissen, mal war sie das Kommando zum Abbeißen. Nach einer Pause von knapp zehn Minuten – mir war ein wenig übel – wurde nur die Glocke ausgelöst und tatsächlich: In meinem Mund sammelte sich Spucke und es schmeckte nach Zuckerguss. Doch auch andersherum funktionierte das Experiment. Connie Hill hielt einen Doughnut in die Höhe und wir erschraken und blinzelten. Große Heiterkeit erfüllte den Klassenraum. Bei mir hielt sich dieser Effekt noch tagelang. Bei jedem Schulläuten kniff ich die Augen zusammen, hatte den Mund voll Sabber und Lust auf Süßes.
Connie Hills Anmut, die ich so sehr mochte, ihre stets leicht übertriebenen Posen, hatten auch etwas Schmerzliches. Für immer wird mir folgendes Bild in Erinnerung bleiben: Sie steht mit dem Rücken zu uns und malt irgendein Diagramm auf die Tafel. Durch die Fenster scheint die Sonne in den Klassenraum, strahlt direkt auf ihre leichte Bluse. Plötzlich hält sie inne, die Kreide fällt ihr aus den Fingern, sie hebt den anderen Arm. So steht sie für einen Moment da. Alle sehen ihr auf den sonnigen Rücken. Beide Handflächen über dem Kopf auf die Tafel gestützt. Und dann sank Connie Hill langsam nach unten. Die Handflächen wischten durchs Diagramm. Sank hinab und verschwand hinter dem Pult. Nach einem kurzen Schreckmoment sprangen wir auf, liefen zu ihr, umringten sie. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Ihr Rock war hochgerutscht, eine der Sandalen lag neben dem Fuß. Jemand rief: »Miss Hill! Miss Hill!« Jemand anderes: »We need a doctor!« Da schlug sie die Augen auf und lächelte sanft. Auch ihre Bluse war herausgerutscht und ich sah ihren eigenartig verzwirbelten Bauchnabel. Wir halfen ihr auf, setzten sie auf den Lehrerstuhl und gaben ihr ein Glas Wasser zu trinken. Kurz darauf kam schon der Schularzt und nahm sie mit. Sie fehlte vier Wochen. Als sie zurückkam, war sie noch schöner.
Den Rest des Halbjahres sprachen wir ausschließlich über Freud und ich nahm rege am Unterricht teil. Freud kannte ich gut, von ihm hatte mir mein Vater schon mit sieben oder acht Jahren jede Menge beim Zu-Bett-Bringen erzählt. Besonders Geschichten über Hypnose hatten es mir angetan. Oft hatte er mir kurz vorm Lichtausknipsen drei Küsse gegeben und gesagt: »Gute Nacht, liebes Es.« – Kuss – »Gute Nacht, liebes Ich.« – Kuss – »Über-Ich, jetzt wird geschlafen!« – Kuss.
Dritte Stunde: English Literature. Auch dem nach Schulschluss unsichtbare Orchester dirigierenden Mr. Kirkwood hielt ich die Treue. Wir lasen: »To kill a Mocking Bird« von Harper Lee. Mir war die Lektüre auf Englisch zu mühsam und ich ließ es mir von meiner Mutter auf Deutsch schicken.
Vierte Stunde: Frei. Erst wollte ich mich für Biologie oder sogar Physik eintragen. Doch dann kam mir das etwas übertrieben vor und schon bald lernte ich diese tägliche Freistunde sehr zu schätzen. Entweder machte ich einen Abstecher in die Werkstatt und plauderte ein wenig mit Larry oder ich schlenderte, wenn das Wetter gut genug war, zum Basketballfeld hinüber und warf ein bisschen auf den Korb. Hin und wieder spielte ich mit meinem Ex-Assistenten Matt, der auch freihatte, eine Runde Tischtennis oder ging an den Fenstern vorbei, hinter denen Maureen gerade Unterricht hatte. Ich mochte es, wie sie mir, wenn ihr Lehrer gerade wegsah, blitzschnell zuwinkte.
Fünfte Stunde: English Grammar. Da der Charme meines anfänglich belächelten Satzbauwirrwarrs ganz offensichtlich verflogen war und mich meine grammatikalischen Kapriolen zunehmend störten, hatte ich mich zu diesem Kurs durchgerungen. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Doch als Miss Murphy die Klasse betrat, gab es einen Knall und meine Sorgen waren atomisiert. Vom ersten Augenblick an wurde sie meine Lieblingslehrerin und Englisch Grammar mein Lieblingsunterrichtsfach. Miss Murphy war schlichtweg der Hammer. Um die fünfzig, etwas rundlich, kurze graue Haare. Sie trug weit geschnittene Hosenanzüge in grellen Farben, Gürtel mit hufeisengroßen Schnallen und dazu Budapester Herrenschuhe. An den Handgelenken, beidseitig, jeweils einen breiten Goldarmreif und um den Hals eine Kette mit wechselnden Anhängern. Machart: mexikanisch, aztekisch, indianisch. Sie redete uns nie mit unseren Vornamen an. Immer nur mit Mr. und Miss plus
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