Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Strecke kamen wir an einem Fenster vorbei, hinter dem ein kleines Büro lag. Eine Frau saß an ihrem Schreibtisch, umgeben von Kabeln und Messinstrumenten. Sie sah vom Computer auf und grüßte. Blubbernd und von stechendem Licht geblendet ließen wir uns weiter nach unten gleiten. Alle paar Meter mussten wir anhalten und einen Druckausgleich machen. Das Wasser wurde trüber, gelblich wie Urin. Es schmeckte eigenartig. Irgendwie nach Schrottplatz, dachte ich. Da berührten meine nackten Füße etwas. Ich erschrak fürchterlich. Der Boden war übersät mit Projektilen, Patronen in allen Größen, verformten Metallhülsen und rostigen Eisenstückchen. In diesem Munitionsmüll wühlten wir nach unseren Taucherbrillen herum. Was mache ich hier unten bloß, fragte ich mich. Was für ein Unort das war. Hier hatte ich wirklich nichts verloren. Laramie war weit weg von meiner Heimatstadt, aber so weit weg von allem und jedem wie im gelben Rostwasser am Grund dieses gruseligen Schachtes war ich noch nie gewesen. Wie wir es gelernt hatten, setzten wir uns die Taucherbrillen auf und drückten durch die Nasen Luft hinein und das Wasser hinaus. Jerry schnallte den Bleigurt um, ich fand die andere Sauerstoffflasche. Zuletzt die Schwimmflossen. Nun ging es langsam wieder nach oben. Wieder vorbei am Unterwasserbüro. Bloß nicht zu zügig! Die einfache Regel war: niemals schneller auftauchen als die aufsteigenden Bläschen um uns herum. Ich hatte einen Heidenrespekt vor der sogenannten Taucherkrankheit. Ich sah es leider zu genau vor mir, um mich nicht damit beschäftigen zu müssen. Sah, wie ich mit geplatzten Adern in den Augen, gelähmt, an der Oberfläche unter den Geschützmündungen trieb. Das war das Schwerste. Nicht einfach so schnell wie möglich nach oben zu paddeln. Nein, Meter für Meter die Angst bezwingen und die Panik wegatmen. Doch es ging alles gut und wir bekamen von unserem haarlosen Tauchlehrer ein Tauchabzeichen überreicht. Zum Abschluss gab es dann noch eine kleine Vorführung durch einen kantigen Offizier. Sein Kinn sah tatsächlich aus wie eine herausgezogene Schublade. Wir kletterten auf eine eiserne Balustrade, bekamen Ohrenschützer und durften zusehen, wie aus den Geschützen in das Becken geschossen wurde. Überall ballerte und knallte es. Ich hätte erwartet, dass es fürchterlich spritzen würde, doch die Projektile sirrten fast unmerklich durch die Oberfläche. Tiefer sah man sie dann, silbrig glänzend im Scheinwerferlicht, zu Boden trudeln. Wie kleine Fischlein verschwanden sie im Meer.
Zögerlich und unbeholfen wurde es Frühling. Zusammen mit Maureen machte ich Ausflüge in das Umland von Laramie. Wir fuhren in die Prärie und staunten über die noch immer sichtbaren, sich durch die weite Ebene dahinschlängelnden Radspuren der ersten Siedler. Hinter größeren Steinen lag überall noch Schnee und versteckte sich vor der schwächlichen Sonne. Auf einem dieser Steine positionierte ich meinen Fotoapparat, drückte auf den Selbstauslöser und rannte zu ihr. Wir umarmten uns, lachten, küssten uns kurz, warfen uns in übertriebene Posen, um im entscheidenden Moment dann doch stillzuhalten und ernst in die Kameralinse zu sehen. Einen ganzen Film verfotografierten wir so. Sechsunddreißig Aufnahmen. Sechsunddreißigmal drücken, rennen, zappeln, innehalten. Wochenlang hatten wir uns während der Basketballsaison nicht gesehen, doch seit einer Party vor drei Wochen trafen wir uns häufig und planten sogar eine gemeinsame Reise, vielleicht nach San Francisco. Sollte diese Reise tatsächlich stattfinden, würde sie eine logistische Meisterleistung erfordern, da es mir nicht erlaubt war, ohne meine Gasteltern Wyoming zu verlassen. Allen Austauschschülern waren Reisen mit Freunden oder, noch schlimmer, minderjährigen Freundinnen streng untersagt. Maureen und ich sprachen viel darüber, planten akribisch, so als hätten wir vor, eine Bank zu überfallen, ohne je wirklich an die Realisierbarkeit unserer Idee zu glauben. Bei der Party vor drei Wochen waren Horden junger Menschen in das Haus eines Jungen eingefallen, dessen Eltern bei einer Beerdigung in Los Angeles weilten. Der Sohn, Rudy Robinson, hatte am Morgen in der Schule ein paar Freunde für den Abend eingeladen. Für diesen einen Schultag wurde der Name Rudy Robinson zu einer Verheißung. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Auf dem Schulparkplatz, ich trug meine Jeans mittlerweile ohne Gürtel auf den Hüften, hatte die Schnürsenkel
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