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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Nachnamen. Ihre Unterrichtsstunden waren grandiose Showeinlagen, pointiert, lustig, präzise: einfach brillant.
    Sie sprach mit solcher Leidenschaft, flog mit solcher Hingabe durch ihre Wortkaskaden – ihre Stimme konnte alles, vom tiefen, eindringlichen Bass bis zu den zwitschernden Höhen –, dass es mir mehrmals so vorkam, als wäre sie kurz davor, loszusingen. Sie ging durch die Reihen, nahm alles und jeden wahr, jonglierte mit unseren Antworten und warf sie nur minimal verändert, aber doch veredelt zurück. Dagegen waren die Lehrer in meiner Heimatstadt uninspirierte, radebrechende Langweiler. Nie wieder habe ich so leicht gelernt wie bei Miss Murphy. Nie wieder habe ich es erlebt, dass, wenn die Schulklingel die Stunde beendete, ein kollektives »Ohh« ertönte. Sie stieß die Tür des Klassenzimmers mit Aplomb auf, rauschte hinein, Kaffeetasse in der Hand, und begann schon beim Türschließen mit dem Unterricht. Wenn sie Fragen stellte und man nicht zügig genug antwortete, sagte sie Dinge wie »Please, Mr. Vaughan, hurry up, I have to ask some other questions before I retire« oder, zu einer gelungenen Antwort: »If your answer would be a necklace, I would wear it all day«. Ohne den Tonfall zu ändern, flocht sie Anmerkungen zu uns Schülern in ihre Ausführungen ein: »You know, the subjunctive is a very tricky but effective – nice new shirt, Miss Houston, looks beautiful – grammatical construction.« Sie war so lustig. Beim Reden brach sie die Kreide in drei Teile und jonglierte damit, oder sie strich mir über meinen rasierten Schädel und bezeichnete mich als süßen deutschen Maulwurf: »cute German mole«. Noch beim Hinausgehen gab sie letzte Anweisungen: »Tomorrow we will start with chapter four. Ladies and – oh look what an interesting cloud out there – gentlemen, thank you very much for your attention. Mr. Gaddis, you get a little lost over there. Next lesson – first row. Have a nice day!« Tür zu. Die Klasse hielt nach diesen Stunden stets kurz inne, bevor der übliche Lärm einsetzte. Das war Unterricht, von dem ich nicht geahnt hatte, dass es ihn tatsächlich geben könne, den ich mir aber immer gewünscht hatte. Konzentration war da keine Frage der permanenten Selbstermahnung, sondern schlichtweg ein Zustand der Neugierde, um bloß nichts zu verpassen.
    Sechste Stunde: Diving. Ich belegte einen Tauchkurs. Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich lieber Algebra 3 belegt. Doch wer sich einmal für einen Kurs eingetragen hatte, der musste ihn auch besuchen. Ich hatte geglaubt, wir würden ein wenig herumschnorcheln und lernen, wie man mit einer Sauerstoffflasche umgeht. Doch wir fuhren dreimal die Woche in eine nahe Laramie gelegene »Military Base«. Dort gab es für ballistische Tests und Durchschlagskraftproben von Munition ein vierunddreißig Meter tiefes Becken, über dem an verwinkelten Stativen Schnellfeuerwaffen und an Furcht einflößenden Apparaturen schwere Geschütze hingen. Wenn ich vom Beckenrand ins Wasser sah, konnte ich den Grund nicht erkennen. Von den Seitenwänden blinkten grelle, bullaugenrunde Lampen ins Becken. Es sah aus wie eine in die Tiefsee führende Landebahn. Weit unten wurde das Wasser trübe, das Blinken schwächer, und alles versank in schwarz-gelbem Dunkel. Und da sollte ich hinuntertauchen? Im ungeheizten Wasser ließen wir uns in Taucheranzügen in diesen Kanal hinab. Blickte man zurück, sah man durch die gekräuselte Wasseroberfläche verschwommen die Mündungen der Geschütze. Von Tauchstunde zu Tauchstunde ging es tiefer abwärts, immer zu zweit. Jerry hatte nicht ganz so viel Angst wie ich, aber auch er sah hinter dem Glas seiner Taucherbrille nicht gerade glücklich aus.
    Am Ende des Halbjahres kam die Prüfung. Unser Tauchlehrer, Derek Brady, hatte eine schwere Krankheit überlebt und seitdem kein einziges Haar mehr am Körper. Glatze, keine Augenbrauen, keine Wimpern, glatte Arme und Beine – ein echter Froschmann. Er warf zwei Taucherbrillen, eine Sauerstoffflasche, zwei Paar Schwimmflossen und einen Bleigurt ins Tiefseebassin und sagte: »I want you to go down there, get the stuff and come back fully equipped!« Jerry bekam ein Sauerstoffgerät, ich einen Bleigurt. So machten wir uns auf den Weg nach unten. Abwechselnd atmeten wir aus dem blubbernden Mundstück ein und reichten es beim Ausatmen hinüber. Jerry hielt sich an mir fest, da nur ich durch den Gurt nach unten sank. Tiefer und tiefer. Ungefähr auf der Hälfte der

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