Alle Toten fliegen hoch: Amerika
einen goldenen Ring und die Trainingsjacke voller Buttons.
Zwei Mädchen am Nachbartisch tuschelten miteinander, schienen sich zu kennen. Wie schön sie waren! Ihre Augen so blau, drum herum so ein strahlendes Weiß, als könnte man direkt durch sie hindurch Segelschiffchen auf der Alster sehen. Ihre Gesichter klar und übersichtlich. Da die Stirn, da die Nase, da der Mund, da das Kinn, das kräftige Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Sie sahen aus wie perfekte Gedecke auf einer Festtagstafel unter freiem Himmel. Da der saubere Teller, da das makellose Glas, da die spitze Gabel, da das scharfe Messer, da der Löffel und da die Serviette. Und so, wie es eine Freude gewesen wäre, im Schatten an einem klassisch gedeckten Tisch zu essen, so stellte ich mir vor, müsste es auch eine Freude sein, diesen symmetrischen, porentief reinen, nordischen Schönheiten einen Kuss auf ihre rot glasierten Porzellanlippen zu drücken. Für die Mehrzahl der hier Versammelten, begriff ich, würde das Jahr in Amerika nichts weiter als eine Selbstverständlichkeit sein, eine Reise wie viele andere, nur halt ein bisschen länger. Wer sich so die Sonnenbrille in die Haare schiebt, braucht sich vor nichts zu fürchten. Wer jetzt schon weiß, dass Sprachkenntnisse in der Überseevertretung des Vaters von Vorteil sein werden, der kennt seinen Weg.
Für mich sollte es ein Weltenwechsel werden, der totale Bruch, die Flucht nach vorne. Plötzlich kam ich mir in meiner Nullachtfünfzehn-Kleinstadtmontur – Sweatshirt, Jeans, Turnschuhe – deplatziert, ja armselig vor. Alle in diesem Raum schienen ihren eigenen Geschmack schon gefunden zu haben. Es gab durchaus mehrere Jungen, die genau das Gleiche trugen wie ich. Doch die Farbe des T-Shirts, der Aufdruck, der Schnitt der Jeans, die Marke der Turnschuhe, das zeugte von modischem Bewusstsein, einem Bewusstsein, das mir völlig abging. Was für mich galt, galt auch für die Mädchen in meiner Heimatstadt: Sweatshirt, Jeans, Turnschuhe. So kleidete sich auch meine Freundin. Hätte sie sich ein Sommerkleid angezogen, so ein Nest auf den Kopf gesetzt, Schuhe mit hohen Absätzen getragen und auf ihre Lippen geheimnisvollen Glanz gehext, ich hätte sie für verrückt erklärt. Wenn ich mit meiner Freundin am Wochenende in eine Kneipe oder in die einzige stadtbekannte Disco ging, trug ich hin und wieder ein Hemd. Dieses Hemd durfte man niemals in die Hose stecken, es musste über der Hose getragen werden. Schön schlabberig. Das Hemd in die Hose zu stopfen galt als spießig. Hier allerdings hing kein einziges Hemd über der Hose. Und die Mädchen? Röcke, so kurz, Kleider, so bunt, Blusen, so seidig, Schuhe mit Riemchen, so zierlich! Unter den Hamburger Mädchen schien das ganz normal zu sein. Und dezent geschminkt waren sie auch. Auf meiner Schule galt ein Mädchen, das sich schminkte, als verkommen. Natürlichkeit war bei uns das Schönheitsideal Nummer eins. Mädchen sollten in die kalte Ostsee rennen, gerne in Zelten schlafen, gut im Handball oder Volleyball sein, große Brüste haben, und vor allem eins mussten sie sein: gut gelaunt, unkompliziert und nicht zimperlich.
Auch der Junge mit der weißen Hose, den Segelschuhen und den gegelten Haaren wurde aufgerufen. Er hob seine Hand nur ein wenig von der Tischplatte und raunte ein tiefes, erdiges »Hier«. Dieses »Hier« war perfekt. Es ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er tatsächlich hier war und hierher gehörte und hier sein wollte und musste. Er lächelte mit nur einer Gesichtshälfte, mit einem Mundwinkel, mit einer Augenbraue überheblich in die Runde, und mehrere Mädchen sahen ihn belustigt an. Aber bemerkt und gemerkt hatten ihn sich alle. Jeder in diesem Raum würde nachher wissen, wer gemeint war, wenn man von dem Typ mit den gegelten Haaren sprach. Von mir würde ganz sicher keines dieser Mädchen sprechen. Wie auch? Wie sollte man von mir reden? Der mit der Jeans? Der mit dem Sweatshirt? Der ohne Frisur? Der, der bei seinem Namen erst nach dem dritten Mal geschnallt hatte, dass er gemeint war, und wie ein Soldat »Hier!« gebrüllt hatte. Ja, daran würde man sich noch am ehesten erinnern. »War das nicht der Soldat mit der Wolle auf dem Kopf?«
»Ich sag euch kurz mal den Tagesablauf. Das wird soooo toll mit euch heute. Was wir alles mit euch vorhaben! Ihr werdet staunen. Als Erstes erzähle ich euch noch ein paar Dinge über unsere Organisation und dann wird euch«, sie zeigte hinter sich, »Phil ein paar Dinge über
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