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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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wieder und jeder suchte sich einen Platz. »Ich begrüße euch alle sehr herzlich zu unserem ersten Treffen hier in Hamburg. Mein Name ist Traudel Buscher-Böck und ich freu mich riesig, euch alle zu sehen.« Hinter ihr saß ein Mann. Es fiel mir schwer, sein Alter zu schätzen. Dreißig? Vierzig? Vielleicht sogar schon fünfzig? Seine knackige Bräune verjüngte ihn, konnte aber die runzeligen Tränensäcke nur ansatzweise kaschieren. Neben ihm saßen zwei Schülerinnen, die etwas älter wirkten als wir anderen. »Also, ich bin eure deutsche Betreuerin, Koordinatorin der Sektion Hamburg und von allem, was da noch so im Norden kommt!« Das, was da noch so im Norden kommt, war ich! Sie kicherte wieder. Es klang seltsam metallisch, schepperte, so als würde sie in ihrer Kehle mit Kleingeld klimpern. »Für mich ist das heute ein gaaanz, gaaanz toller Tag. Endlich sitzt ihr mir gegenüber. Einige von euch kommen mir aus den Unterlagen schon bekannt vor. Ich freu mich wirklich waaaahnsinnig, euch zu sehen. Endlich geht es los. Ich bin sooo gespannt auf euch und, ach, ich weiß auch nicht, ich finde das alles sooo aufregend. Ich rufe euch jetzt mal der Reihe nach auf, um zu sehn, ob ihr alle da seid!«
    Sie las die Namen von einer Liste ab und dazu die jeweilige Adresse. Der Tonfall, in dem die Aufgerufenen »Hier« sagten und ihre Hand hoben, verriet bereits viel über sie. Je näher sich das Alphabet auf meinen Namen hin durchbuchstabierte, desto sicherer wurde ich mir, niemals ein so lockeres und urbanes »Hier« zustande zu bringen wie die anderen. Ein Mädchen mit einem kunstvoll geflochtenen weißblonden Zopfnest auf dem Kopf, übermütigen Augen und Sommersprossen streckte den Arm, die Hand hoch – diese Hand schien leichter als Luft zu sein, davonfliegen zu wollen – und rief so laut »Hier!«, als stünde sie auf der anderen Seite der Elbe. Dabei winkte sie übermütig in die Runde. Allgemeine Heiterkeit. Ich übte leise, brummte »Hier«-Varianten vor mich hin, suchte nach der richtigen Mischung aus unangestrengter Souveränität und lässiger Überlegenheit. Ich war so beschäftigt mit »Hier«-denken und -flüstern, dass ich meinen Namen überhörte und erst beim dritten Aufruf begriff, dass dieser Name mein Name war. Erschrocken riss ich meinen Arm hoch und bellte mein »Hier« wie beim Morgenappell über den Exerzierplatz. Wieder allgemeine Heiterkeit. Beleidigt sah ich mich um.
    Es gab einen riesigen Unterschied zwischen mir und den Jungs hier. Sie hatten Frisuren und ich nicht. Sie hatten ausrasierte Nacken, gelegte Scheitel oder absichtlich verwuschelte Haare, die wie zufällig in die Stirn, über ein Auge fielen. Meine Haare wurden nicht geschnitten, sie wurden gebändigt. Alle halbe Jahr ging ich zum stets selben Friseur und sagte mein Sprüchlein auf: »Ja kürzer, aber Ohren nicht frei, und bitte, bitte nicht zu kurz!« Ich ging immer erst dann, wenn meine Augen unter meinen blonden, wild wuchernden Locken zu verschwinden drohten, meine Brüder sich zu sehr über mich lustig machten und ich beim Schwimmtraining aussah, als hätte ich einen Baumkuchen unter meiner Badekappe versteckt. Hier sah ich sogar einen Jungen mit stramm zurückgegelten Haaren. Er trug einen flauschigen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt, eine weiße Stoffhose und Segelschuhe. Wie gerne hätte ich solch domestizierte Haare gehabt. Ich hatte versucht, meine mit Zuckerwasser zu zähmen, am Kopf festzuföhnen. Es war unmöglich. Wie Löwenzahn den Asphalt, so durchstießen meine Drahtlocken den Zuckerguss. Eine Reihe hinter dem Gegelten saß ein Junge, dem man tief in die Nasenlöcher sehen konnte und der wie ein fünfzehnjähriger Bankdirektor wirkte, hanseatisch, blasiert und zuverlässig bis zur Bewusstlosigkeit. Sein »Hier« hatte nasal geklungen. Hätte er nicht seine wurstige Hand gehoben, ich hätte gar nicht gewusst, dass dieses polypenüberwucherte »Hier!« seines gewesen war. Er hatte ein seidenes Einstecktuch und ich betrachtete ihn und dachte: Mein Gott, hast du es gut. Der rote Teppich für dein ganzes Leben liegt ausgerollt vor dir. Und mit neunzig Jahren fällst du auf Sylt tot in den Sand! Daneben ein blendend aussehender Junge mit wilden schwarzen Haaren. In den Haaren sogar eine hochgeschobene Sonnenbrille. Auch diese Frisur hätte ich gerne gehabt: unordentlich-ordentlich, präzise zerzaust. Er sah aus, als käme er gerade aus dem Bett, ja als hätte er die Nacht durchgefeiert. In jedem Ohrläppchen hatte er

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