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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Amerika erklären. So, dass ihr euch besser vorstellen könnt, was euch erwartet. Phil ist aus New York und euer Mann vor Ort. Also, es gibt natürlich noch in jedem Bundesstaat einen extra Ansprechpartner, aber Phil ist unser Supervisor drüben.« Der gebräunte Phil winkte uns zu. »Wir werden ein paar Spiele spielen. Auf Englisch. Dann hören wir noch Sandra und Veronika, die letztes Jahr in den USA waren und euch von ihren Erlebnissen und auch Sorgen berichten, ja, und dann haben wir noch einen Fragebogen. Der ist wichtig, damit wir für euch die richtige Gastfamilie finden können. Das soll ja passen. Wir haben so viele Anfragen dieses Jahr, also, das muss ich euch gleich ehrlich sagen, dass wir nicht alle in unser Programm aufnehmen können.« Also doch, dachte ich, die nehmen nicht jeden! Streifte mich ihr Blick? »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Gastfamilien. Wir haben da eine riesige Verantwortung. Immerhin erklären diese Familien sich bereit, euch ein ganzes Jahr bei sich aufzunehmen. Und die bekommen kein Geld. Das müsst ihr euch mal klarmachen, die bekommen keinen Pfennig dafür, dass ihr ein Jahr bei denen wohnt, schlaft und esst. Und deshalb müssen wir sehr sorgfältig sein bei unserer Auswahl. Aber wenn ich mich hier so umsehe«, sie strahlte in die Runde, »das wird schon klappen. Also loooos geht’s.«
    Während dieser flotten Ausführungen wurde mir etwas erbarmungslos klar. Es hatte schon mit der Anwesenheitsliste begonnen. Damit, dass ich und noch ein Mädchen aus Kiel die beiden einzigen Nicht-Hamburger waren. Mir wurde klar, dass hier Großstädter saßen und ich ein Kleinstädter war, und dass diese selbstbewussten Großstädter auch in den USA natürlich in eine Großstadt gehörten und ich natürlich ganz sicher nicht. Mir wurde, während ich die jungen Frauen und jungen Männer um mich herum betrachtete, immer klarer, dass ich meinem Großstadtwunsch gar nicht gewachsen war. Dass meine New-York-, meine Chicago-, meine Los-Angeles-Sehnsucht reine Selbstüberschätzung war. Mein Gott, auf welches Selbstbewusstsein, auf welche Qualitäten gründete sich eigentlich meine Hoffnung, eine New Yorker Familie glücklich machen zu können. Wollte ich hier noch eine Chance haben, musste ich mich augenblicklich von meinen großspurigen Anwandlungen befreien und einsehen, dass ich, der Kleinstädter, in eine Kleinstadt gehörte. Ich würde nachher im Fragebogen alles dafür tun müssen, als provinzielle Idealbesetzung zu glänzen, und nicht länger so, als wäre ich ein souveräner Weltenbummler, ein transatlantischer Hauptgewinn. Das wurde mir bei jedem weiteren Blick auf meine Mitbewerber klar. Uns trennten Welten.
    Im Laufe des Nachmittags zementierten sich meine Befürchtungen. Wir spielten das sogenannte Mörderspiel: Alle mussten sich auf den Boden legen und die Augen schließen. Der Spielleiter, Phil, ging herum und tippte, von den anderen unbemerkt, einem von uns auf die Schulter. Der war der Mörder. Dann standen alle auf und gingen kreuz und quer im Raum herum. Wen der Mörder anblinzelte – es durfte niemand anderes als nur das Opfer sehen –, musste still bis zehn zählen und dann schreien und sterben. Der Mörder lief also durch die Gruppe und versuchte, unerkannt einen nach dem anderen mit einem Augenzwinkern über den Jordan zu schicken. Wer den Mörder beim Zwinkern erwischt hatte, ging zum Spielleiter und verriet ihn. Der Mörder hatte gewonnen, wenn er es geschafft hatte, alle zu töten, ohne selbst entdeckt zu werden. Ich kam kein Mal dran. Weder als Täter noch als Opfer. Eine Stunde lang kurvte ich unter den Stuckgeschwüren herum und wurde kein einziges Mal ermordet. Ich hätte mir sehr gewünscht, von einer der ebenmäßigen Porzellanschönheiten zu Tode gezwinkert zu werden. Ich hätte alle meine Scham fahren gelassen und wäre schreiend und zuckend für sie gestorben. Wieder und wieder kreuzten sie meinen Weg, stolzierten an mir vorbei, diese blasierten Stuten mit ihren weißen Gebissen, ihren angelegten Ohren, und ignorierten mich. Wie ein Idiot wich ich jedem aus oder rempelte herum. Ich rotierte durch den Raum und war unsichtbar. Ich hatte zwar »Hier« gerufen, war aber nicht hier. Da sah ich, wie der Junge mit den gegelten Haaren jemandem zuzwinkerte. Ich rannte zum Spielleiter, zeigte auf ihn und flüsterte: »Der da, der da hinten, der ist der Mörder.« Ich hatte recht. Er war es. Die Runde war aus, obwohl sie gerade erst begonnen hatte, und ich spürte

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