Alle Toten fliegen hoch: Amerika
sitzen. Wenn sich einer der Körper im Pullover bewegte, gaben die anderen leise Unmutslaute von sich, und unter der Wollhaut wurde sich hin und her gewendet. Beine sah ich keine. Sich hier, wie mein Freund begeistert geschwärmt hatte, einfach dazulegen zu dürfen, zu den anderen in den Pullover zu schlüpfen, mit ihnen eins zu werden und Nüsschen zu knabbern, sei es auch nur für ein Stündchen, kam mir alles andere als erstrebenswert vor. Leise trat ich den Rückzug an.
Gegen acht durchquerte ich die Herbertstraße ein zweites Mal. Diesmal war schon mehr los. Ich nahm mir vor, langsam zu gehen und nicht wieder wie ein Karnickel auf der Flucht an den üppigen Damen vorbeizuhoppeln. Da sah ich sie. Dunkle Haut. Sie trug strahlend weiße Wäsche. Sie sah mich. Sah sofort, wie ich sie anstarrte, und klopfte an die Scheibe. Ich ging zu ihr. Sie öffnete ihr Fenster. Sie war wirklich schön. Viel schöner, als ich es mir erhofft hatte, und sie war tätowiert. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Das hatte ich nicht für möglich gehalten, dass man dunkle Haut so farbenprächtig tätowieren konnte. Aus dem offenen Fenster strömte mir Wärme und ein eigentümlicher Geruch entgegen. Eine Mischung aus billigem Parfüm, öligem Kokosaroma und scharfem Putzmittel. In breitem Hamburgisch sprach sie mich an: »Na, möchste nich ma reinkomm? Hast du Lust was zu machen?« Ich war sehr verlegen, auch enttäuscht, da ich eher auf einen gutturalen Akzent gehofft hatte. In unseren Gesprächen über die Herbertstraße war immer wieder davor gewarnt worden, ohne feste Preisabsprachen die Schaufenster zu betreten. Man müsse immer genau absprechen, was für wie viel Geld gemacht werden solle. »Na, du redst wohl nich so gerne. Komm doch erst ma rein.« Ich fragte leise: »Wie teuer ist es denn?« »Kommt ganz drauf an, was du machen möchtest.« »Tja, was gibt es denn so?« Ich wäre gerne weggerannt, aber da zählte sie mir schon alles auf. Einfach so, zack, den ganzen Einkaufszettel runter: »Mit der Hand kostet vierzig, wenn ich mich dabei oben rum ausziehe fünfzig. Französisch sechzig. Nen schöner Tittenfick ab achtzig. Richtig ficken hundert. Ganz nackt hundertzwanzig. Zweimal mit Stellungswechsel hundertfünfzig. Wenn du richtig was erleben möchtest, gibst du mir zweihundert, und dann haben wir schön ’ne ganze Stunde Zeit, und ich lass dich auch mal hinten rein.« »Zweihundert hab ich nicht«, sagte ich, »ich muss auch bald schon mit dem Zug nach Hause.« Da lachte sie und ich sah die Füllungen in ihren Backenzähnen. »Komm doch erst ma rein.« Und sehr sanft: »Hey, möchste nich reinkomm?« Ihre Lippen waren unglaublich, so voll, so glänzend. Doch darauf fiel ich nicht herein. »Ich weiß nicht. Ich glaub, ich muss noch ein bisschen überlegen.« »Na, dann überleg ma schön. Mir wird kalt«, und sie schloss ihr Fenster.
Ich winkte ihr, lief aus der Herbertstraße hinaus, drehte ein paar Runden auf einem Platz mit einer Hans-Albers-Büste und ging wieder in die Herbertstraße hinein, zielstrebig zu ihrer Scheibe. »Hey, hallo!« Ich vergriff mich völlig im Ton, als wäre ich eine Woche lang weg gewesen, und begrüßte sie wie eine alte Bekannte. »Ich hab mir was ausgesucht. Ich hätte gerne das mit äh … äh … mit den … Brüsten für achtzig.« »Na, dann komm ma rein.« Ich folgte ihr in ein kleines Hinterzimmer. Auf dem Bett lag ein großer Plüschpanther mit knallgelben Augen. »So, zuerst die achtzig Mark, bitte.« Ich holte meinen prall gefüllten Bullensack aus der Sporttasche, setzte mich aufs Bett und stapelte je zehn Markstücke zu Türmchen neben die rötlich glimmende Lampe auf den Nachttisch. »Was machst du denn da?«, fragte sie mich. »Hast du dein Sparschwein geschlachtet?« »Nee, nee. Ich bin … äh … ich gebe kleinen … Schwimm… ich bin Rettungsschwimmer.« »Rettungsschwimmer? Und da gibt’s so viel Trinkgeld?« Sie lachte über ihren Witz. Ich schob die acht Türmchen zusammen und gab ihr das Geld. »Zieh dich aus und leg dich hin. Bin gleich wieder da.«
Als ich nackt neben dem Panther auf dem Bett lag, nicht auf einem Bettlaken, sondern auf einem großen Frotteehandtuch, sah ich mich über mir in einem riesigen Spiegel unter der Decke schweben. Dieser schlaksige, nackte Junge mit dem Lockenturban: Das war ich. Ich sah zu mir hinauf, hatte aber eher das Gefühl, ich würde auf mich hinunterblicken. Hinunter auf ein erwachsenes Baby, das zusammen mit seinem
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