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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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gehört. Na, mein Lieber, Reisender, wie war’s? Und da fuhrst du los.« ›Und da fuhrst du los‹ bedeutete, dass ich alles ganz genau erzählen sollte, bloß nichts auslassen. Mein Vater wollte immer jede Einzelheit wissen, wenn man unterwegs gewesen war. »Ach, es war ganz okay.« Da kamen mir die Tränen. Ich setzte mich auf die Küchenbank und weinte bitterlich. Sie setzten sich zu mir. »Ach, mein Lieber, was ist denn passiert? Komm, iss mal was, sonst ist es gleich wieder kalt.« Ich aß und weinte, kaute und erzählte: »Die waren total bescheuert da. Alles so Lackaffen. Ich kam mir vor wie der letzte Idiot.« Mein Vater stellte mir ein Glas kalte Milch hin. Er hatte sich auch eine Gabel geholt und aß mit von meinem Teller. »Lauter so bescheuerte Fragen. Und dann mussten wir ein Spiel spielen, und diese Frau da, die war so ätzend, die hat voll komisch gesprochen: ›Ich freu mich soooo, dass ihr da seid. Das wird gaaaaanz, gaaaaanz toll heute.‹« Meine Eltern lachten. »Und so ein Amerikaner war auch da, den hab ich kaum verstanden, der hat irgendwas von Kulturschreck oder Kulturschock gefaselt. Und wie die da alle ausgesehen haben. Totale Streber, und die Mädchen alle wie so Zuckerpüppchen! Am Ende kam ein Fragebogen. So bescheuerte Fragen!« »Was denn zum Beispiel?«, wollte mein Vater wissen. »Ach, keine Ahnung. Ob ich die Natur liebe, oder ob ich an Gott glaube.« Ich hatte aufgehört zu weinen: »Und wisst ihr, was ich bei der Frage, ob ich gläubig bin, angekreuzt habe?« »Nein, was denn?« »Sehr gläubig!« Ich erzählte und erzählte und wunderte mich darüber, wie viel ich erlebt hatte. »Und dieses Treffen da ging den ganzen Tag?« »Nee, bis fünf.« »Und was hast du dann gemacht?« »Bin rumgelaufen.« »Warst du im Museum? In der Warhol-Ausstellung?«, fragte mein Vater. »Nee!« »Aber was hast du denn gemacht?« »Sag ich nicht!« »Warum grinst du eigentlich die ganze Zeit so komisch vor dich hin?«, wollte mein Vater wissen. »Du siehst irgendwie verändert aus.« »Ach, nichts.« Meine Mutter fragte: »Was ist denn so lustig? Hab ich irgendwas verpasst?«, und sie lachte, ohne zu wissen, warum, und auch mein Vater lachte mit. Er klopfte mir auf den Rücken, da ich mich an einer Kaper verschluckt hatte und hustete. Ich stand auf. »So, ich bin müde. Gute Nacht!« »Ja, gute Nacht. Morgen musst du aber noch mal ganz genau erzählen, ja: Und da fuhrst du los!« Ich küsste erst meinen Vater, dann meine Mutter auf den Kopf und ging in mein Zimmer. Ich zog mich aus. Pfefferte meine Provinzjeans und mein Allerweltssweatshirt voller Verachtung in die Ecke und ging ins Bett. Kurz bevor ich einschlief, dachte ich noch: Vielleicht war der Tag ja doch nicht so schlecht. Eine Niederlage ist immerhin auch ein Erlebnis. Vielleicht ist es sogar spannender, an unbekannten Orten Niederlagen zu erleiden, als an den bekannten Orten Erfolge zu feiern. Darüber dachte ich nach, war mir nicht ganz sicher, ob das so stimmte. Was hatte noch mal auf ihrem Rücken gestanden? Ich machte das Licht wieder an, ging zu meinem Schreibtisch und schlug das Wort in meinem Englischwörterbuch nach. Ich fand »Eternity: Ewigkeit, das ewige Leben«.
    Drei Wochen später kam die Zusage für Amerika und die Kontonummer, wohin meine Eltern, beziehungsweise meine Großeltern das Geld überweisen sollten.

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    2. Kapitel
    »Bist du überhaupt schon mal geflogen?«, rief mir der beste Freund meines mittleren Bruders vom Beifahrersitz aus zu. »Ja, klar«, rief ich sehr laut von der Rückbank, da ich mein Fenster aufhatte und der Fahrtwind so stark war, dass meine Drahtlocken im Wind tanzten. »Ist aber schon voll lange her!« Wir waren auf der Autobahn Richtung Frankfurt unterwegs. Hamburg hatten wir schon hinter uns gelassen. Der Elbtunnel war länger, als ich es erwartet hatte. Mein Bruder fuhr. Schnell. Hundertsechzig bis hundertachtzig Stundenkilometer. Das Auto gehörte unserem Vater. Automatik mit Kickdown. Wenn wir überholten und mein Bruder das Gaspedal kräftig durchtrat, ging ein Ruck durch den Wagen und er zog gewaltig an, sodass wir in unsere Sitze gedrückt wurden. Davon konnten mein Bruder und sein Freund nicht genug bekommen. Andauernd riefen sie gemeinsam: »Uuuund: Kickdown!« Und schon jagte unser Auto am nächsten Laster vorbei und mir wurde flau im Magen. Der Freund meines Bruders hatte die Schuhe ausgezogen und seine bestrumpften Füße von innen gegen die Windschutzscheibe gestemmt. Mein

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