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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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gepolsterten Kopf auf die Sporttasche und schlief sofort ein. Der Schaffner weckte mich. Noch zwanzig Minuten bis nach Hause. Sogar die Rendsburger Hochbrücke hatte ich verschlafen. Ich sah aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Sah aber nur mich selbst. Mein leicht verzerrtes Spiegelbild. »Du hast heute total versagt.« Ich sprach mit mir selbst. »Versagt auf ganzer Linie. Das mit Amerika kannst du vergessen. Und alles andere auch. Du bist kein Reisender, kapier das endlich, du bist und bleibst ein Pendler!«
    Endlich war ich da. Vom Bahnhof bis zu unserem Haus lief ich zu Fuß. Es war nicht nah, eine Dreiviertelstunde, aber ich hatte plötzlich große Lust, noch ein Stückchen zu gehen. Meine Eltern würden eh schon schlafen. Wie still es hier war. Totenstill. Ich kam an dem Kino vorbei, in das mich der Sohn des Besitzers, ein Freund von mir, heimlich in einen Film geschleust hatte. Ich war zwölf und der Film hieß »Piranhas«. Das Kino war ein sogenanntes Verzehrkino. Wie stolz war meine kleine Stadt, als dieses Verzehrkino eröffnet wurde. Ich dachte danach jahrelang, es gäbe in großen Städten nur Verzehrkinos, und ein Kino, in dem man nichts zu essen bestellen könne, sei ein Provinzkino. Dass ich aber nirgends sonst jemals wieder auf ein Verzehrkino gestoßen bin, wundert mich noch heute. Während des Films konnte man vor sich auf eine Klingel drücken und Würstchen und Bier bestellen. Als ich »Piranhas« sah, der ab achtzehn war, bin ich vor Angst fast ohnmächtig geworden. Aus dem Swimmingpool eines wahnsinnigen Professors entkommen die Piranhas in einen Fluss. Da ein Liebespaar verschwunden ist und ihre Kleidung noch rund um den Pool liegt, pumpt die Polizei das Wasser aus dem Becken, wodurch die Piranhas in die Kanalisation gelangen. Ich hatte gesehen, wie der Mann und die Frau sich nackt ausgezogen hatten und baden gegangen waren. Ruckartig wurden sie unter Wasser gezogen. Das Wasser sah aus, als ob es kochen würde. Immer wieder wechselte die Kamera von den schreienden Mündern zu den zubeißenden spitzzahnigen Mäulern der Fische. Später kroch dann noch ein Angler, der gemütlich seine Füße im Fluss gebadet hatte, mit abgenagten Unterschenkeln über eine Wiese. Der abgebrühte Sohn des Kinobesitzers verzog keine Miene und aß einen Teller Chili con Carne. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich gehen wollte, dass es mir zu gruselig war. Ich wollte kein Feigling sein. Ich traute mich nicht einmal, die Augen zu schließen, und sah den ganzen Film.
    Ich ging die wohlbekannten Straßen entlang und dachte darüber nach, ob ich es eigentlich mochte, dass es hier so still war. Jetzt gerade, nach diesem verkorksten Tag, tat es mir gut, aber eigentlich hasste ich diese Stille. Das, dachte ich, gibt es in Hamburg nicht. Da verdichtet sich das Brummen und Bremsen und Gasgeben zu einer nie abbrechenden Geräuschkulisse, einem Geräuschpegel, den man immer hört, Tag und Nacht, der einen trägt. Durch den Tag in die Nacht trägt, durch die Nacht bis zum Morgen trägt, bis ins Bett, und während man schläft, draußen schon wieder auf einen wartet. Und ich stellte mir die Menschen in Hamburg vor, wie sie morgens aufwachten, dieser Klangteppich schon für sie ausgerollt war und sie sich nur anzuziehen, aus der Tür zu treten und sich treiben zu lassen brauchten. In meiner Stadt war Stille noch der Urzustand. Beruhigend, aber eben auch anstrengend, da man immer alleine von vorn anfangen musste, Lärm zu machen. Kein Weiterreichen, kein Einklinken – jeder für sich allein in seiner Stille. So brummten auch die Autos an mir vorbei. Aus der Stille kommend, in die Stille fahrend. Die Ziele dieser Autos erfüllten mich mit Langeweile. Garagen oder verkehrsberuhigte Wohnstraßen. Und während der Motor noch warm war, krabbelten die Kleinstädter in ihre heimeligen Betten und versanken gedankenlos in eben dieser Stille. Wie vereinzelt hier alles war. Einzelne Häuser, einzelne Autos, einzelne Bäume.
    Behutsam steckte ich den Schlüssel ins Schloss, um niemanden zu wecken. Doch in der Küche brannte noch Licht. Ich ging um die Ecke und da saß meine Mutter und las. »Hallo!« »Oh, hast du mich erschreckt!« »Tschuldigung!« Der Hund kam, wedelte mit dem Schwanz und stupste mich mit seiner Nase in die Handfläche. »Hast du Hunger? Es ist noch was vom Hühnerfrikassee da. Wie war es denn?« »Ach, ging so.« Mein Vater kam in seinem abenteuerlich verschlissenen Bademantel herein. »Hab ich doch richtig

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