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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Sporttasche und zog ihn mir an. Das tat mir gut. Vom Bier war mir etwas schummerig. Allein schon an der Haltestelle, die St. Pauli hieß, auszusteigen, kam mir wie eine verbotene, waghalsige, extrem verruchte Aktion vor. Es dauerte eine Zeit lang, bis ich den durch eine plakatierte Wand versperrten Eingang der Herbertstraße fand. »Für Frauen verboten!« stand auf einem Schild. Links und rechts konnte man an der Wand vorbei hineingehen. In meiner Hand lag schwer der mit Münzen prall gefüllte Bullensack. Ich atmete ein und lief um die Wand herum.
    Es waren tatsächlich schon ein paar Prostituierte da. Sie saßen in verglasten Nischen, leicht erhöht, auf Barhockern und hatten es sichtlich schön warm in ihren Schaufenstern. Panisch hin- und herblickend lief ich zügig einmal die Herbertstraße hinunter. Das, wonach ich suchte, hatte ich nicht gesehen: eine dunkelhäutige Frau. In den letzten Wochen, ja, Monaten hatte mich das Verlangen nach einer dunkelhäutigen Frau anfangs nur gelegentlich, dann mehr und mehr ausgefüllt und zuletzt regelrecht beherrscht. All diese blassen, blonden, blauäugigen Mädchen auf meiner Schule, meine Freundin! Da musste es doch noch etwas anderes geben! Ich war versessen auf die Begegnung mit einer Schwarzen, dachte ununterbrochen an sie, verzehrte mich nach ihren schwarzen Brüsten, dem schwarzen Hintern und den großen Lippen. Klischierte Momentaufnahmen von Geschmeidigkeit und Wildheit zerrten an meinen Nerven. Doch eine dunkelhäutige Prostituierte hatte ich nicht gesehen. Bis auf eine, die mit abstehenden Zöpfen, Bluse und Minifaltenrock an einem rotweißen Lolly lutschte und wie zwölf aussah, waren sie alle eher älter gewesen. Hatten einen gelangweilten Eindruck auf mich gemacht. Sahen aus wie vollbusige müde Lehrerinnen. Ich beschloss, später noch einmal wiederzukommen, vielleicht war sechs Uhr auch einfach noch zu früh.
    Ich machte einen Spaziergang runter zur Elbe und kam zum dritten H, zu den schon erwähnten Häusern der Hafenstraße, die mich wie erwartet völlig kaltließen. Ein Freund der linken Schülervertretung hatte geschwärmt: »Da kannst du in jedes Haus einfach reingehen und dich mit deinem Schlafsack in irgendeinem Zimmer in die Ecke hauen und da wohnen, so lange du willst.« Vor einem der bunt bemalten Häuser standen unter einem Wellblechvorsprung zwei schwarz angezogene Männer und tranken Bier. Um ihre Füße herum hatten sie jeder einen noch nicht ganz geschlossenen Kreis aus leeren Bierdosen gestellt. Auf den geschlossenen Flügel der Eingangstür waren sehr gekonnt drei grimmig dreinblickende lebensgroße Polizisten gemalt. Zwei von ihnen standen aufrecht, hatten prügelbereit ihre Schlagstöcke erhoben. Einer kniete. Sein Mund war der Briefkastenschlitz. Über ihnen folgender Warnhinweis: »Wir müssen leider draußen bleiben.« Um die Tür herum waren in einem Bogen zerbrochene Flaschenböden und -hälse in den Mörtel gedrückt. Auch Hunderte Braun-, Weiß- und Grünglasscherben. Ich schritt durch diesen liebevoll gestalteten scharfkantigen Bogen hindurch in den Hausflur und stieg die ehemals sicher prächtige, jetzt arg ramponierte Treppe empor. Auf den ausgelatschten Stufen lagen überall getrocknete Erbsen herum und ich überlegte, ob diese dort wie in einem Einbrecherwitzfilm absichtlich verstreut worden waren, um etwaige Eindringlinge zum Straucheln zu bringen. Konnte das sein? Mit Hülsenfrüchten gegen die Staatsmacht? Ich kam in den ersten Stock. Eine Tür stand halb offen. Auf einer wie mitten im Zimmer abgeworfenen Matratze lagen mehrere Personen. Drei oder vier? Vielleicht aber auch fünf oder sechs? Wie viele es waren, konnte ich nicht erkennen, da sie sich in ihren überdimensionierten Strickpullovern eng aneinandergeschmiegt hatten. Es sah aus, als würden sie alle zusammen in einem einzigen Pullover stecken. Einem grobmaschigen Riesenpullover mit mehreren zu langen Ärmeln. An einigen Stellen ragten Köpfe aus der Wolle. Die Haare teilweise gefärbt, teilweise bis auf die Kopfhaut abrasiert. Einige der Pulloverbewohner sahen zum Fernseher, der auf dem Boden stand, hinüber, andere schienen zu dösen. Aus zwei Dosen wurden Erdnüsse gegessen. Es war nicht zu erkennen, ob diejenigen, die die Dosen hielten, selbst aßen oder die anderen fütterten. Im Fernseher liefen »Die Waltons«. Ich sah Jim Bob mit seinem irritierend großen Muttermal auf der Wange, das ich schon immer abstoßend gefunden hatte, an seiner Schreibmaschine

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