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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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ich: Basketball! Hast du irgendwelche Allergien? Ich überlegte kurz. War es schlau, hier zu lügen? Wenn es Frühling wurde, nahm ich Tabletten, war schlapp, nieste, stocherte mir mit der Gabel im juckenden Rachen herum und bekam kaum Luft. Aber wer mochte schon ein geschlagenes Jahr lang einen Allergiker bei sich wohnen haben? Antwort: keine Allergien. Hast du psychische Probleme und falls ja, welche? Und ob! Hin und wieder übermannt mich der Zorn und ich haue alles kurz und klein. Antwort: nein, keine. Nächste Frage: Wie würdest du deine Englischkenntnisse beschreiben? Schlecht, eher mäßig, gut oder sehr gut. Also gut war ich in Englisch nicht. Aber wer hier die richtige Auskunft gab, dachte ich, ist selber schuld. Da konnte man ja auch gleich fragen: Willst du nach Amerika? Ja oder nein? Ich kreuzte ›sehr gut‹ an! Schwierige Frage: Warst du schon mal in den USA , und falls ja, wo? Was sollte das? Was ging die das überhaupt an? Was sollte ich da schreiben? War es von Vorteil, schon mal da gewesen zu sein, oder von Nachteil? Jemand, der schon mal da war, dachte ich, der braucht nicht noch mal hin. Also: nein. Allerdings hat jemand, der noch nicht da war, sein Interesse an Land und Leuten noch nicht unter Beweis gestellt, hat sich noch nicht als offen und reisetüchtig erwiesen. Also: ja! Oder ging es darum, wohin man kommen würde? Käme jemand, der schon mal in New York war, wieder nach New York oder aus Gerechtigkeitsgründen diesmal aufs Land? Hinter jeder Frage lauerte ein Abgrund, eine Perfidie. Nach zehn Minuten schrieb ich, dass ich schon mal in Amerika gewesen wäre, allerdings mit fünf Jahren in Texas. Letzte Frage: Was erwartest du dir von diesem Jahr? Ich hatte so lange über die anderen Fragen nachgegrübelt, dass ich einer der wenigen war, die noch nicht abgegeben hatten. Ein aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Adressen wurden ausgetauscht, und der Gegelte stand mit dem Haarnestmädchen am offenen Fenster. Ich schrieb: Ich würde gerne Basketball spielen und …
    Ich überflog mein Blatt. Das war doch alles kompletter Quatsch. Was hatte ich da bloß alles angekreuzt und geschrieben? Nie, niemals würde ich genommen werden. Jemand, der gerne in der Provinz in Mehrbettzimmern schläft, strenggläubig ist und mit fünf Jahren schon mal in Texas war! Und zur großen Überraschung seiner Gastfamilie stellt sich heraus, dass er kein Wort Englisch spricht und nachts in seinem Bett an einem Asthmaanfall stirbt. Wie war die Frage? Was erwartest du dir von diesem Jahr: Ich würde gerne Basketball spielen und … »So, gib jetzt bitte deinen Fragebogen ab«, forderte mich Traudel Buscher-Böck auf. Ich schrieb: Ich würde gerne Basketball spielen und … und – ein anderer Mensch werden! – und weg war das Blatt.
    Wer wollte, durfte nun die beiden Mädchen befragen, die bereits in Amerika gewesen waren. Ich sah den anderen beim Fragen zu. Verabschiedete mich von niemandem, was niemandem auffiel. Als ich die schmiedeeiserne Treppe hinunterging, war ich komplett niedergeschlagen. Wie hatte das passieren können? Ich war so guter Dinge nach Hamburg aufgebrochen, und nun war alles schiefgelaufen. Alles, aber auch alles hatte ich vermasselt. Keiner hatte mich angesprochen, um seine Adresse mit mir zu tauschen, keiner hatte sich zu mir gestellt und mich gefragt: »Und, glaubst du, das wird was?« Ich war plötzlich todmüde und hungrig.
    Ganz in der Nähe fand ich ein türkisches Restaurant, in dem orientalische Musik lief und in einem Hinterzimmer, das sah ich durch den Spalt einer angelehnten Tür, Männer um einen Plastiktisch saßen, würfelten und Wasserpfeife rauchten, die Pfeife von einem zum anderen weiterreichten. Ich bestellte mir einen Lammspieß mit Reis und – es war das erste Mal, dass ich das freiwillig tat – ein Bier. Ich hatte unfassbare Lust auf ein kaltes Bier. Ich saß am Tisch und wartete auf mein Essen.
    Im letzten Sommer hatte ich mit meiner Freundin, meiner ersten Freundin überhaupt, eine Reise in die Türkei gemacht. Wir waren beide gerade sechzehn geworden. Sie hatte einen Sprachkurs an der Volkshochschule belegt. Wir fuhren mit dem Auto. Von Kiel bis Istanbul. Zusammen mit einem Kette rauchenden türkischen Heavy-Metal-Fan. Wir hatten uns, um Geld zu sparen, bei einer Mitfahrzentrale gemeldet. Er fuhr nie schneller als hundertzwanzig und unterhielt sich dreiundzwanzig Stunden lang mit meiner Freundin, die vorne sitzen durfte. Er überbrüllte dreiundzwanzig Stunden

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