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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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lang seine infernalische türkische Heavy-Metal-Musik und meine Freundin schleuderte stolz ihre Türkischbrocken in den Lärm. Sie: »müzikden çok hoşlanıyorum!« Er: »gídíklarsa müzik mest oluyorum!« Dann wippten sie wieder beide mit den Köpfen zur Musik. Sie verstanden sich prächtig. Ich saß hinten, eingequetscht, mit Kaninchenaugen im Zigarettenqualm, und verstand kein Wort. Kurz vor Istanbul ließ er uns an einer gottverlassenen Kreuzung aussteigen. Nach Stunden fanden wir ein Hotel, wo wir für ein Heidengeld auf dem Dach unter Antennen unsere Schlafsäcke ausrollen durften. Sobald man die Augen schloss, schlichen räudige Katzen heran und schnupperten an den Rucksäcken. Beugte man sich über ein kleines Mäuerchen, sah man viele Meter in eine Straßenschlucht hinab. In ein Sammeltaxi eingepfercht erreichten wir am nächsten Abend die mit halbfertig gebauten Hotelkomplexen verschandelte Küste. Unten wurde schon gewohnt, oben noch gebaut. In dem Sammeltaxi zwinkerte mir ein Mann zu, machte obszöne Andeutungen mit seiner Zunge, dellte sich mit ihr die Wange aus oder leckte sich über die Lippen. Am verdreckten Strand waren überall Soldaten. Sie kamen und ließen sich zusammen mit meiner Freundin fotografieren, teilten mit einem Handkantenschlag überreife Melonen und legten den Arm um sie. Als ich mich beschwerte, zeigten sie auf meine kurze Hose, lachten und schlenderten davon. Nach einer Stunde am Meer bekam meine Freundin eine Sonnenallergie. Mit dicken Pusteln am ganzen Körper lag sie im glühend heißen Zelt. Nachts zirpten die Grillen so nervtötend, dass wir nicht schlafen konnten. Am Morgen wurde ich von Motorengeräusch geweckt. Ich steckte den Kopf aus dem Zelt. Ein Flugzeug flog in geringer Höhe über den Campingplatz und versprühte ein Pulver. Auf alles, auf die Zelte, die Zedern, die Wasch-Baracken rieselte diese gelbliche Asche herab. Meine Freundin wachte auf. Ihr Gesicht war so zugeschwollen, dass sie die Augen kaum öffnen konnte. Barfuß stand sie in dem eigenartigen Pulver, weinte und kratzte sich die Sonnenpusteln auf. Sie wollte nur noch zurück. Also, wieder auf nach Istanbul und dann mit dem Zug über Bukarest, dreizehn Stunden auf dem Gang stehend nach München und von da aus Richtung Norden. Drei Tage und zwei Nächte waren wir fort gewesen.
    Mein türkisches Essen kam und sah köstlich aus. Sogar die sehr scharf angebratenen, ja, stellenweise schwarz verbrannten Paprika schmeckten mir. Ich bestellte mir noch ein Bier. Dieser ungewohnte Bierdurst erstaunte mich. Ich aß das zarte Lammfleisch, den Reis, die Paprika, warmes Brot dazu, und trank das Bier. Es roch so gut in diesem kleinen Restaurant. Nach der Wasserpfeife, dem gegrillten Fleisch. Das Stimmengewirr, die Musik. Ich kaute langsamer, holte tiefer Luft und trank in kleineren Schlucken. Es war Viertel vor fünf. Ich griff in die Sporttasche und legte den Bullensack vor mir auf den Tisch. Das erste der drei Hs, für die Hamburg für mich stand, hatte ich schon besichtigt. Es blieben noch H wie Herbertstraße und H wie Hafenstraße. Von der berüchtigten Herbertstraße hatte ich bestimmt das erste Mal mit zehn gehört. Stundenlang redeten wir über die Herbertstraße. Wenn ich bei einem Freund übernachtete, im Bett lag, das Licht schon gelöscht war, schwelgten wir in Herbertstraßenfantasien. Die Herbertstraße war das Land unserer versauten Träume. Später wurde dann immer mehr über die besetzten Häuser der Hafenstraße gesprochen. Ja, das Wort Hafenstraße ersetzte unerbittlich das Wort Herbertstraße. Vielleicht habe ich mir damals zum ersten Mal, durchaus beschämt, mein vollkommenes politisches Desinteresse eingestehen müssen, da mich jede Unterhaltung über die Herbertstraße tausendmal mehr interessiert hat als über die Hafenstraße. Das Wort ›Herbertstraße‹ hat mich immer sofort elektrisiert, wohingegen mich das Wort ›Hafenstraße‹ augenblicklich mit Langeweile erfüllte. Mehrere von der linken Schülervertretung organisierte Busreisen gingen zur Hafenstraße. Ich habe an keiner teilgenommen. Hätte aber jemand, egal wer, eine Schülerbusreise zur Herbertstraße organisiert, wäre ich sicher sofort dabei gewesen. Viel wurde über die Preise der Prostituierten in der Herbertstraße spekuliert. Doch für gut hundertfünfzig Mark sollte einiges möglich sein. Ich bezahlte meinen Lammspieß und machte mich auf den Weg zur U-Bahn.
    Es war kühl geworden und ich nahm den Pullover aus meiner

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