Alle Toten fliegen hoch: Amerika
wusste ich schon, dass ich nach Amerika gehen würde. Sie war weder aus meinem Jahrgang noch von meiner Schule. Diese drei Monate von unserem Kennenlernen bis zum verpatzten Abschied am heutigen Morgen waren in jeder Hinsicht erregend und nervenaufreibend gewesen.
Kennengelernt hatten wir uns auf einem Steg am Langsee. Das war ein einsam gelegener, zum Großteil von einem dichten Schilfgürtel zugewachsener tiefer See. Durch den Schilfgürtel führten brüchige Holzstege, deren morsche Bretter teilweise eingebrochen waren. In der Nähe des Stegs, auf dem meine Freunde und ich lagen, war ein Stückchen uferabwärts der nächste. Darauf entdeckten wir drei Mädchen. Eines der Mädchen lag ohne Oberteil auf dem Rücken auf einem orangefarbenen Handtuch, die beiden anderen auf dem Bauch und lasen oder schrieben etwas, machten vielleicht Hausaufgaben. Wir kannten die Mädchen nicht, hatten sie hier an unserem See noch nie gesehen. Meine Freunde und ich benahmen uns wie Vollidioten. Der blanke Busen auf dem Nachbarsteg, die geballte Ladung von in der Sonne schmorenden Schlüsselreizen, Schenkeln, Bäuchen, Schultern, Hintern und Brüsten ließ uns, die wir doch eher schüchterne Norddeutsche waren, zu sizilianischen Lackaffen mutieren. Dass uns die Mädchen bemerkt hatten und nur so taten, als würden sie nichts von dem mitbekommen, was wir auf unserem Steg veranstalteten, war sicher. Und während sie seelenruhig dalagen oder träge das ein oder andere von der Sonne durchwärmte Körperteil umlagerten, sprangen wir mit vollem Anlauf in den See, kämpften miteinander auf dem Steg oder schubsten uns ins Wasser. Ich schielte sogar im Fallen vom Steg zu ihnen hinüber. Sah, bevor mich das grün-gruselige Wasser des schon einen Meter unter der Wasseroberfläche eiskalten Endzeitmoränensees verschluckte, den großen eingeölten Busen des Mädchens. Wir brüllten einfallsreiche Dinge wie: »Ey Alter, spinnst du!«, »Sag mal, wo glotzt du eigentlich die ganze Zeit hin?« oder »Gib nicht so an, du Spacko!«. Ich war mir nicht zu blöd, im Schmetterlingsstil – auch genannt Delfin –, der Angeberschwimmstil Nummer eins, am Mädchensteg vorbeizupflügen. Die Missachtung der Mädchen trieb uns zu immer waghalsigeren Manövern. Wir kletterten in eine am Ufer stehende Buche, balancierten auf einem waagerechten Stamm und versuchten über den Schilfgürtel hinweg in den See zu springen. Wir landeten im knietiefen Wasser, hatten die Beine voller Schlick und schrien und lachten: »Ey Alter, wie siehst du denn aus!« »Oh Mann, der Matsch, der stinkt voll derbe!« Erst als sich die drei Mädchen erhoben, zum Schwimmen bereit machten, und die übrigen beiden auch noch ihre T-Shirts auszogen, sie sich alle drei barbusig am Stegrand aufstellten und wie in einer Wasserrevue nacheinander kopfüber hineinfallen ließen, erst da wurden wir still, legten uns auf den Bauch und pressten unsere Erregung gegen die verwitterten Holzplanken. Ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen, glitten ihre Köpfe schwanengleich ganz nah an unserem Steg vorbei, und uns fielen fast die Augen ins grüne Wasser. Draußen auf dem See drehten sie sich auf den Rücken und wieder sahen wir, während sie wild mit den Füßen schlugen und das Wasser spritzen ließen, ihre Brüste auf- und untertauchen. Mein Freund flüsterte: »Ich möchte sterben!« Uns beeindruckte, wie weit sie im kalten Wasser hinausschwammen. »Die sind echt hart im Nehmen!«, sagte ein Freund, und ein anderer: »So was findet man nicht so leicht!« Wir alle standen in einem permanenten Wettkampf, Kälte zu ertragen. Im T-Shirt bei fünf Grad durch die trostlose Einkaufstraße zu flanieren. Da standen die Mädchen bei uns drauf. Und spätestens am ersten Mai in der Ostsee baden. Bei acht, neun Grad. Unser Körperkult war ein Kältekult. Mädchen, die kälteresistent waren, punkteten gewaltig. Bibbernde Frauen? Da konnte eine noch so hübsch sein – wenn sie sich zierte, wenn man sie mit Schnee einrieb oder in die Ostsee schubste, hatte sie keine Chance. Die ging uns auf die Nerven. Kälte ignorieren zu können war unsere einzige Möglichkeit, dem norddeutschen Sommer ein paar Strand- oder Badetage abzutrotzen. Ich habe viele Wochenenden unter bewölkten Himmeln mit blauen Lippen bei vierzehn Grad in der Badehose am Strand oder am See gelegen, als wäre ich an der Copacabana, und schreiend vor Kälteschmerzen im Wasser geplanscht.
Die Mädchen kamen zurück. Mühsam kletterten sie auf den Steg
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