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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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heißen: STAN und HAZEL . Der Familienname ist: ATKINSON . Sie haben drei Söhne: BILL , BRIAN und DONALD .« Ich nahm den amerikanischen Straßenatlas, den mein Vater mir geschenkt hatte. War Laramie oder Wyoming die Stadt? Ich fand die Seitenangabe und blätterte mich durch die Staaten. Mein erster Eindruck von Wyoming war: Keine Straßen. Andere Staaten waren überzogen von engmaschigem Straßengewirr. Wyoming war total leer. Eine blaue Straße von links nach rechts knapp über der Staatsgrenze zu Colorado und eine blaue Straße von unten nach oben. Das wars. Die Farbe der Karte: ocker. Dieser Bundesstaat war ein die gesamte Atlasseite überspannendes ödes ockerfarbenes Viereck. Bisschen grün oben links, das war alles. Nach längerem Suchen fand ich Laramie. Es war nicht einmal die größte Stadt in Wyoming. Unscheinbar, ohne jegliche Verheißung, lag der Name »Laramie« in dieser lehmfarbenen Ödnis herum. In den beigefügten Materialien hatte ich dann einiges über Laramie gelesen. Dass es eine Universitätsstadt war. Das Sportangebot der Laramie Highschool hatte mich sprachlos gemacht. Nach und nach hatte ich mich mit der Idee, in dieses Kaff auszuwandern, abgefunden, ja mich von Tag zu Tag mehr damit angefreundet. Was mich versöhnlich gestimmt hatte, war die Aussicht, es in so einem Nest vielleicht tatsächlich ins Basketball-Team zu schaffen. Damit tröstete ich mich, baute ich mich auf. Niemals würdest du das in New York oder Dallas schaffen, sagte ich mir. Die da in den ersten Mannschaften sind, haben ja nie etwas anderes gemacht, als Basketball zu spielen. Ich las auch, dass der Anteil von Schwarzen an der Gesamtbevölkerung im erzrepublikanischen Wyoming minimal war. Auch das erhöht deine Chancen, dachte ich. Dann kam ein mit Schreibmaschine getippter Brief meiner Gastmutter mit eben diesem Foto, das ich auch jetzt wieder auf meinem Reisetaschenlager ungläubig musterte. Vor einem Felsen stehen die drei Söhne mit Topffrisuren in Cordanzügen und spitz zulaufenden Hemdkrägen, offen getragen. Davor sitzen meine zukünftigen Eltern. Er mit streng gescheiteltem Haar und einer eckigen Hornbrille, ebenfalls in einem Anzug, allerdings mit Schlips. Daneben sie in einem grauen Strickkostüm, Jacke und Rock. Die beiden Beinstückchen zwischen Rocksaum und Schuhkante in einer blickdichten Strumpfhose hatten eigenartigerweise exakt den gleichen Braunton wie die Felsen dahinter. Dadurch sind sie unsichtbar und es wirkt so, als seien sie amputiert. Um die Amputation auf dem Foto zu kaschieren, hat man ihr, solche Sachen stellte ich mir immer gerne vor, zwei leere Schuhe unter den Rock gestellt. Die Bluse hochgeschlossen mit einer Kette und einem Kreuz daran. Eigenartig fand ich, dass keiner den anderen berührt, obwohl alle Familienmitglieder eng beieinanderstehen. Zwischen den Schultern der Brüder gibt es einen feinen Spalt, durch den ich den Hintergrundfelsen sehen konnte. Und auch die Eltern sitzen aufrecht, frontal die Hände im Schoß gefaltet. Keines der Kinder hat seine Hand auf die Schultern der Eltern gelegt. Die Arme der Söhne hängen herab. Sechs hängende Cordröhren. Die ganze Familie hat im Moment der Aufnahme direkt in die Kamera gesehen. Als ich das Foto meinen Eltern zeigte, bekamen sie einen Sekundenkollaps, bevor sie die Sprache wiederfanden und meine Mutter mit belegter Stimme sagte: »Die sehen doch nett aus!« Meine Brüder kannten keine Gnade: »Dass es so was noch gibt! Er sieht aus wie ein perverser Prediger und sie, als hätte sie Verstopfung.« »Ach, hört doch auf«, versuchte es meine Mutter. »Ich finde, sie sieht ganz nett aus!« »Guck mal der da!«, mein ältester Bruder tippte auf den jüngsten der drei Gastbrüder, auf Donald: »Das ist ein Psycho, das seh ich sofort. Der hat so einen durchtriebenen Blick. Vor dem würde ich mich in Acht nehmen, der ist böse!« Mein mittlerer Bruder stimmte mit verstellter Zombiestimme zu: »Verdammt böse!«
    Ich schob alles wieder in den Ordner und streckte mich. Ich zog meine Turnschuhe aus und bewegte die Zehen. Da fand ich an meinen Socken mehrere klettige Kügelchen, erbsengroß. Ich zupfte sie ab. Wo kamen die denn her? Wahrscheinlich von der Wiese hinter dem Autobahnparkplatz. Ich ließ meinen Kopf auf die Sporttasche zurücksinken, streckte mich noch einmal und schloss die Augen. Zwei Stunden bis zum Abflug hatte ich noch. Erst von Frankfurt nach New York und dann weiter nach Denver. Ich drehte eines der Klettkügelchen zwischen

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