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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Daumen und Zeigefinger. Die Zeit verging quälend langsam. Jede Minute dehnte sich zäh in dieser glasumbauten, von Schritten und Durchsagen widerhallenden Weitläufigkeit. Auch die Zeit selbst schien hier auf etwas zu warten, auf irgendeinen verspäteten Anschlussflug zur anderen Seite der Welt. Mit jeder Minute wurde ich einsamer. Ein Zwischenstadium, ein Zustand des unfreiwilligen Innehaltens, eine Zwangsandacht, in der sich meine Einsamkeit unter optimalen Bedingungen entfalten konnte, den perfekten Nährboden fand: noch nicht richtig weg, aber eben auch noch nicht richtig unterwegs. Dieses Warten war die Hölle.
    Ich war der einzige Austauschschüler, der an diesem Nachmittag von Frankfurt aus flog. Normalerweise war es üblich, dass sich die Austauschschüler am Flughafen trafen, gemeinsam nach New York flogen und sich dort trennten und weiter zu ihren Gasteltern reisten. Durch einen nicht nachvollziehbaren Zufall war ich in ein Organisationsloch gefallen. Wäre ich von Hamburg mit den dortigen Teilnehmern geflogen, hätte ich in New York allein übernachten müssen, und das wollte ich auf keinen Fall. Dann ergab sich die Möglichkeit, mit meinem mittleren Bruder nach Frankfurt zu fahren, der auf seinem Weg nach Gießen war, wo in Kürze sein heiß ersehntes Medizinstudium beginnen sollte. Zum Schrecken meines Vaters hatte er vor, ein Zimmer in der düsteren Villa einer schlagenden Verbindung zu beziehen. Der Abflug der Austauschschüler aus der Frankfurter Region war eine Woche später. Ich war also vollkommen alleine unterwegs. Mehrmals hatte mich die Hamburger Betreuerin angerufen und gefragt: »Ist das wirklich okay für dich? Wenn du nicht alleine fliegen willst, wird uns schon was einfallen.« Und: »Also, ich buche jetzt den Flug für dich. Ich schicke dir noch ein Formular, deine Eltern müssen unterschreiben, dass sie damit einverstanden sind, dass du alleine unterwegs bist. Also, du bist sicher?« »Ja, bin ich.« »Wow! Du bist sooo mutig!« Da ich mich auch auf den zwei weiteren Vorbereitungstreffen in Hamburg mit niemandem angefreundet hatte, die Kluft zwischen mir, dem Kleinstädter, und den lässigen Großstädtern eher noch gewachsen war, fand ich die Vorstellung, allein unterwegs zu sein, nur konsequent. Ich hatte mich getraut, eins der schimmernden Porzellanmädchen anzusprechen: »Hast du vielleicht Lust, mit mir nachher an der Elbe spazieren zu gehen? Ist so schönes Wetter heute.« Sie hatte mir nicht mal geantwortet, den Kopf geschüttelt, sodass ihre duftenden Zöpfe hin und her pendelten, und war lachend zu den anderen gegangen. Sie ließ mich einfach stehen. Sie hatte mich kurz angesehen, mit fragender Geringschätzung, so, als würde sie ihren kleinen Perlmuttohren nicht trauen, so, als wäre ich ein stinkender Bauer, der eine Königin zum Rendezvous bittet. Ich wollte die alle nie wieder sehen, diese verwöhnten Hamburger Diplomaten- und Kaufmannskinder.
    Ich nahm aus dem Seitenfach meiner Sporttasche einen Briefumschlag. Darin waren fünf Fotos. Eines meiner Eltern auf einem Spaziergang am Meer in gelben Regenjacken, sogenannten Ostfriesennerzen. Meine Mutter trotzt wie immer den widrigen Umständen mit einem heiteren Gesichtsausdruck. Eine Heiterkeit, die es demonstrativ mit Regen und Wind aufnimmt und dadurch verkrampft wirkt. Ein Foto meines mittleren Bruders mit unserem Hund, der eigentlich sein Hund war. Mein Bruder sitzt auf einem weißen Gartenstuhl in der Wiese. Er hat es mit Selbstauslöser gemacht. Er hält den Kopf des Hundes in die Kamera. Der Hund versucht, abzuhauen. Mein Bruder lacht. Eines meines ältesten Bruders beim Angeln in Schweden. Er hält stolz eine Meerforelle in die Kamera. Aus der dem Betrachter zugewandten Kieme des Fisches rinnt Blut. Und eines meiner mondänen Großeltern. Sie sitzen auf ihrer Terrasse. Die Glyzinie blüht, umrankt das Foto wie eine Zierbordüre, und die Sonne bricht sich in den Whiskeygläsern. Das Foto war so gestochen scharf, dass ich die Eiswürfel in den Gläsern zählen konnte. Mein Großvater zwei. Meine Großmutter drei. So wie immer. Sie tragen beide riesige Sonnenbrillen, die schon zigmal aus der und wieder in Mode waren. Dann natürlich noch ein Foto meiner Freundin. Sie trägt einen Mantel ihres verstorbenen Opas und hält sich einen Hagebuttenzweig vor das Gesicht, linst schelmisch durch die Zweige hindurch. Ich sah mir das Bild an, mochte ihren Blick sehr und vermisste sie. Wir waren uns erst vor drei Monaten begegnet. Da

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