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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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waren erschöpft von den langen Autofahrten und legten sich auf Liegen in den Garten. Bill zog seine Baseballmütze, die er, wie ich fand, lächerlich weit oben auf dem Kopf balancierte, über die Augen. Brian las verschiedene Zeitungsartikel, die sein Vater für ihn ausgeschnitten hatte. Wieder wie bei uns, dachte ich. Mein ältester Bruder war zwar nicht dick, aber sein Verhältnis zu meiner Mutter war immer inniger gewesen als zu meinem Vater. Und mein mittlerer Bruder wollte ja auch Arzt werden. Für meinen Vater, der selbst Arzt war, war das eine unglaubliche Freude. Am Mittagstisch fachsimpelten sie ständig über medizinische Themen und wenn mein Vater einen interessanten Artikel fand, schnitt er ihn sorgfältig aus der Zeitung aus und gab ihn meinem Bruder.
    Am späten Abend, viel später, als mit ihm gerechnet worden war, kam Don. Es klang, als ob ein Rennwagen in die Einfahrt einbog. Der Pudel rannte los, sprang von innen gegen die Tür. Hazel sagte: »The dog loves this sound!«, und Stan: »I hate it!« Ich blieb mit den beiden älteren Brüdern im Wohnzimmer sitzen und hörte Dons Stimme, merkwürdig hoch: »Hi, Mom.« Er kam ins Zimmer. Den Pudel hatte er im Arm. Er trug eine Sonnenbrille, einen in verschiedenen Brauntönen gemusterten hautengen Rollkragenpullover, einen schwarzen Lackgürtel, Hosen, oben eng, unten mit extremem Schlag, und spitz zulaufende Wildlederstiefeletten. Der Hund leckte sein Kinn. Don hatte als Einziger der drei Söhne noch exakt denselben Topfschnitt wie auf dem Familienfoto. Als Bill seinen Bruder sah, pfiff er leise. Don winkte einmal in die Runde, sagte »Hello everybody!« und ging – er hatte einen winzigen Hintern in der knallengen Hose – in sein Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Stan stand merklich verstimmt auf, gab einen unterdrückten Unmutsgrunzer von sich und folgte ihm, drückte die Klinke und schloss die Tür hinter sich. Ich hörte, wie Stan Worte zischelte und Don im Falsett widersprach. Die beiden anderen Söhne sahen sich wissend an und redeten lauter als zuvor über das, was sie erlebt hatten. Stan und Don kamen aus dem Zimmer. Don schlenderte auf mich zu, er war dünn, skinny, mit Serge auf dem Arm, stellte sich vor meinen Sessel und streckte mir seine Hand entgegen: »I’m ordered to say hello. So hello then!« Dabei sah er mich gar nicht an, sondern über meinen Kopf hinweg an die Wand. Ich gab ihm die Hand und erschrak. Sie war kalt, eiskalt und schlaff. Wie ein toter Tintenfisch. Er sah zu seinem Vater herüber. Sein Blick sagte »Na, gut so? Zufrieden?«, und ging zurück in sein Zimmer. Kurz darauf drang laute Musik durch die Tür. Stan sagte bedrohlich leise »Gee!« und wollte schon wieder aufstehen, doch Hazel nickte ihm zu und er blieb sitzen. Sie fragte in die Runde, wohin man denn am Abend zusammen essen gehen wolle. Man einigte sich auf ein chinesisches Lokal.
    Als wir zum Essen aufbrachen, fuhren wir mit vier Autos. Keine Ahnung warum. Aber die Söhne nahmen jeder ihren eigenen Wagen. Hazel stand vor Dons Tür und rief: »We’re leaving right now. Please don’t be late!« Das Auto, mit dem mich meine Gasteltern aus Denver abgeholt hatten, das fahrende Doppelsofa, hatte sich als das Auto der beiden Schwestern entpuppt. Nun saß ich wieder eingezwängt, beinverwinkelt auf der Rückbank in einem, wie Stan stolz anmerkte, »German car!«. Das Restaurant war eine kitschige mehrstöckige Pagodenimitation. Über eine bogenförmige Steinbrücke, unter der erschütternd große Koikarpfen mit ihren wulstigen Lippen tote Insekten von der Wasseroberfläche wegschluckten, schritt man an roten Laternen mit asiatischen Schriftzeichen und Fächerahornen vorbei in den von Papierwänden aufgeteilten Raum. Es dudelte helle fernöstliche Musik, nur wenige Gäste waren da. Gegessen wurde auf dem Boden. Doch man musste nicht im Schneidersitz sitzen oder gar knien. Unter den Tischen waren Vertiefungen, in die man bequem die Füße stellen konnte. Oben konnte man so tun, als wäre man ein Chinese, und unten ein waschechter Amerikaner bleiben. Don kam zwanzig Minuten zu spät und hatte ein abenteuerliches, mit feuerspuckenden Drachen bedrucktes Synthetikhemd an. »Don, would you please take off your sunglasses in the restaurant, please!«, bat ihn Hazel. Er nahm die Brille herunter. Es stimmte, was mein Bruder gesagt hatte, er hatte bösartige Augen, einen angriffslustigen, überheblichen Blick. Sein ganzer Habitus – wie er sich an den Tisch setzte, wie

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