Alle Toten fliegen hoch: Amerika
anderen. »Vor zwei Jahren haben sie mir da einen Tumor rausoperiert. Seitdem habe ich immer Kopfweh! Aber besser Kopfweh als tot!« Er war extrem lichtempfindlich und die Vorhänge mussten immer geschlossen bleiben. Beim Skifahren trug er über seiner Sonnenbrille noch eine Art Schweißerbrille mit schwarzen Gläsern. Unser Zimmer lag über einem ehemaligen Schweinestall. Frisch umgebaut, aber es roch nach Schwein. Ich lag im Bett unter einer klammen, im Inneren klumpigen Bettdecke, und aus der Wand, aus den Fugen der Rigipsplatten roch es nach Schwein. Mein Skilehrer war ungeduldig mit mir. Für die Anfängergruppe war ich zu gut und für die Fortgeschrittenengruppe, in die ich eingeteilt worden war, eigentlich noch zu schlecht. Nach einer Woche fuhr ich immer noch im Schneepflug den anderen hinterher die Hänge hinunter. Schwung für Schwung quälte ich mich ängstlich die zu steilen Pisten hinab, unten wartete der Rest der Gruppe, und der Lehrer zeigte mit dem Skistock auf mich und erklärte etwas. An den Abenden gab es Aufführungen. Jedes Zimmer musste etwas vorbereiten. Mein Zimmernachbar sagte mir, er könne sehr gut Witze erzählen und ich dürfte gerne mitmachen. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war, dass ich in jeder Hand einen großen Topfdeckel hielt und diese zusammenschlug, um seinen nächsten Witz anzukündigen. Er lief zu Hochform auf, von Kopfweh keine Spur, feuerte eine Pointe nach der anderen ab, und ich ließ die Topfdeckelbecken scheppern.
Nach der Aufführung bekam ich fürchterliches Heimweh und wollte nur noch nach Hause. Da mein Vater Kinder- und Jugendpsychiater war und oft am Mittagstisch über Patienten sprach, kannte ich einige Diagnosen, ohne genau zu wissen, worum es sich dabei eigentlich handelte. Um so schnell wie möglich dem abgedunkelten Zimmer mit dem kopfoperierten Komiker und dem Schikaneskikurs zu entrinnen, brauchte ich einen unumstößlichen Grund. Früh am Morgen, noch bevor der direkt hinterm Schweinestall beginnende Lift seinen Betrieb aufnahm, ging ich zu unserem Reiseleiter und sagte: »Es tut mir sehr leid, aber ich muss sofort nach Hause. Ich bin manisch-depressiv!« »Du bist was?« »Manisch-depressiv. In den ersten Tagen ging es mir einigermaßen gut. Da hatte ich meine manische Phase. Aber jetzt kommt, das spüre ich genau, ein depressiver Schub, und da will ich lieber zu Hause sein. Denn das ist nicht ohne.« »Wie alt bist du?« »Neun.« »Und du bist manisch-depressiv?« »Genau.« »Komm«, sagte er, »wir rufen mal deine Eltern an!« Er wählte die Nummer, und da es noch früh am Morgen und mein Vater noch nicht in der Klinik war, hob er ab. »Ich hab hier Ihren Sohn und er sagt, er wäre krank.« Dann, nach einer Pause: »Ja, er sagt, dass er sofort nach Hause geschickt werden muss.« Wieder Pause. Ohne etwas zu verstehen, erkannte ich den Klang der Stimme meines Vaters, wie sie sonor aus der Telefonmuschel in das Ohr des Reiseleiters sprach. Mein Vater schien etwas zu fragen und der Reiseleiter antwortete: »Manisch-depressiv.« Pause. »Ja, er steht hier neben mir.« Pause. »Dein Vater will dich sprechen.« Er reichte mir den Hörer. Als ich die Stimme meines Vaters hörte und er »Was ist denn, mein Lieber?« fragte, musste ich sofort weinen. »Hey, was ist denn passiert?« »Ich will nach Hause! Ich will zu dir! Sofort! Alle hier sind so gemein zu mir!« Der Reiseleiter schlenderte in die nach kaltem Rauch riechende Wirtsstube und ließ mich in der Telefonnische allein. »Ach mein Lieber, jetzt hör erst mal auf zu weinen.« Ich schluchzte ins Telefon: »Ich will hier nicht sein. Ich hasse Skifahren. Es ist hier alles viel zu steil! Ich hasse das alles hier! Alle fahren mir weg und ich bin immer der Letzte!« »So, jetzt hör erst mal auf zu weinen. Ist es denn nicht auch ab und zu schön?« »Nein. Nie! Nie! Nie! Ich will nach Hause.« Er überlegte: »Weißt du was? Du musst da nicht sein. Wenn du nicht willst, dann musst du da nicht sein!« »Ja, bitte, bitte hol mich ab!« »Wir machen Folgendes: Du schaffst noch diesen Tag und ich überleg mal, was wir unternehmen, wenn es nicht besser wird!« Ich heulend: »Das wird nicht besser. Ich will hier weg!« »Genau. Sei nicht mehr traurig. Genau. Gut. Also, ich mach jetzt einen Plan und du beobachtest alles ganz genau und machst nichts, was du nicht willst! Ja, das musst du mir versprechen: Mach nichts, was du nicht willst! Versprochen?« »Ja, Papa, versprochen.« »Und heute Abend telefonieren wir
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