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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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zwischen den tief hängenden Nachtwolken. Da offenbarte sich das vor mir liegende Jahr in seinem tatsächlichen Zeitmaß. Mein Jahr in Amerika dehnte sich unter diesem weiten Himmel, diesen fliegenden Wolken, in diesem winterlich kühlen Wind schlagartig ins Unendliche aus. Plötzlich fühlte ich, dass ich wirklich und wahrhaftig verdammt lange von zu Hause fort sein würde. Meine Augen hatten sich gut an die Dunkelheit gewöhnt, und keine fünfzig Meter von mir entfernt bewegte sich etwas. Tiere? Silhouetten schoben sich vorsichtig aus einem Hügeleinschnitt auf die freie Fläche. Rehe? Nein, sie waren größer. Eine Herde Schatten zog grasend an mir vorbei. Ich begriff, dass es mich viel Kraft und Kummer kosten würde, dieser ›Alleshintersichlasser‹ zu werden, zu dem ich mich auserkoren hatte. Ich fror, stand auf. Die Schatten erschraken und sprangen davon. Eine Viertelstunde später trat ich durch die Tür ins Warme. Stan saß in seinem automatischen Sessel, hatte sich in die Horizontale gefahren und sah sich im Fernsehen den Wetterbericht an. Hazel lag auf der Couch und las ein dickes Buch, auf dessen Cover ein Einhorn mit weißer Mähne durch einen Wald galoppierte. Das goldene Horn glänzte auf dem Buchcover. »Do you want some ice-cream?«, fragte sie mich. »No thanks!« Ich setzte mich in einen der Sessel. Vor ein paar Tagen hatte mich Hazel im Garten gefragt, ob ich wüsste, wo Stan wäre. Ohne zu überlegen hatte ich geantwortet: »I think: electric chair!« Sie versuchte, nicht zu lachen, aber ich sah, wie sie die Lippen zusammenpresste und ihre Augen feucht wurden. War ich wirklich so ein unbegabter Sprachidiot? Aus Deutschland hatte ich ihnen als Geschenk zwei Frotteehandtücher mitgebracht. Auf dem einen war der Dom meiner Heimatstadt, auf dem anderen das Schloss zu sehen. Es waren nett bedruckte, stinknormale Handtücher. Stan hatte sie im Wohnzimmer an die Wand genagelt. Ich sagte: »Good night everybody!« Stan hob den Kopf: »Good night! And don’t forget: From now on you have to share your bathroom with Don.«
    Dieser Don machte mir Sorgen. Das Bad war zwischen unseren Zimmern. Die beiden Zugänge! Wollte ich in Zukunft ungestört sein, musste ich die Tür zu Dons Zimmer abschließen. Als ich an diesem Abend ins Bad kam, hatte er meine Zahnbürste, Zahnpasta und Nagelschere von der Ablage über dem Waschbecken genommen und auf die Fensterbank geworfen. Seine Waschutensilien hatte er fein säuberlich über die gesamte Breite der Ablage verteilt. Ich schob seine Sachen auf die eine und legte meine zurück auf die andere Seite. Obwohl er nicht da war, schloss ich seine Tür ab und ging aufs Klo. Im Spiegel gegenüber sah ich nur meine Haare. Es sah aus, als würde dort ein krauses blondes Unkraut wuchern.
    Ich hatte einmal fast eine Reise wegen Heimweh abgebrochen. Ich war neun oder zehn und alleine mit einer Gruppe meines Schwimmvereins in den Bayerischen Wald in die Skiferien gefahren. Mit einem Bus ging die Reise in meiner Heimatstadt los. Der Versammlungsort für solche Reisen war stets der Dani Grill. Schon seit Jahren war das Leuchtstoffröhren-G von Grill kaputt und er hieß Dani rill. So nannten wir den Imbiss auch in meiner Familie. »Bitte, bitte Mama, bring halbe Hähnchen vom Dani rill mit!« Als ich müde wurde, legte ich mich, da ich in den Bussitzen keinerlei Schlafposition hatte finden können, auf den schmalen Mittelgang. Meine Jacke diente als Kopfkissen. Wenn ich die Augen aufmachte, sah ich die Beine und Schuhe oder von denen, die es sich bequemer gemacht hatten, Füße in Socken. Der Bodenbelag kratzte wie eine Fußmatte, aber ich war hundemüde und schlief ein. Als ich geweckt wurde und mich verschlafen im Bus aufrichtete, sah ich eine traumhaft schöne, unwirklich wirkende Schneelandschaft. Tannenbäume in dicke Daunendecken gepackt und links und rechts vom Bus in der Wintersonne funkelnde Schneewehen. Ich wurde beneidet und gelobt: »So einen Schlaf würde ich auch gerne haben. Legt sich in den Hüttener Bergen hin und wacht erst zehn Minuten vorm Ziel im Bayerischen Wald wieder auf.« »Du hast so ein Glück gehabt! Heute Nacht haben wir vier Stunden im Stau gestanden! Nix ging mehr.« Dieser erste Moment sollte vorläufig der schönste der ganzen Reise bleiben.
    Ich teilte mein Zimmer mit einem Jungen, der behauptete, immerzu Kopfweh zu haben. Er strich sich die Haare zur Seite und zeigte mir eine wulstige Narbe, die quer über seinen Hinterkopf lief, von einem Ohr zum

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