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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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er die Speisekarte nahm – hatte etwas Aufrührerisches.
    Das Besondere an dem Restaurant war, dass alle Speisen brennend serviert und erst am Tisch gelöscht wurden. Die chinesischen Kellner hatten ängstlich verkniffene Gesichter. Obwohl sie die Speisen weit von sich weghielten, die Köpfe nach hinten bogen, schlugen ihnen die Flammen entgegen. Sie rannten, so schnell sie konnten, und knallten einem die brennende Pekingente auf den Teller. Sogar mein Litschi-Eis brannte lichterloh. Alle beteiligten sich am Gespräch, erzählten und fragten, und auch ich traute mich, den ein oder anderen Satz beizusteuern. Don aß als Einziger nicht mit Stäbchen, hatte sich Messer und Gabel kommen lassen, stocherte angewidert in seinem Essen herum, sortierte Sojasprossen aus und schwieg. Seine Brüder waren ausgelassener, lieferten sich ein Gefecht mit den Essstäbchen über den Tisch hinweg, und Brian rief: »Got you!« Er hatte unter den Achseln dunkelgrüne Schweißflecken im hellgrünen Hemd und schielte hungrig auf den Teller seines jüngeren Bruders. Hazel fragte mich, ob meine Brüder sich auch wie kleine Kinder benehmen würden, und ich antwortete: »Sometimes.« Nach dem Essen bekam jeder einen Glückskeks und las den kleinen Zettel laut vor. Ich nahm all meinen Mut und meine wackeligen Englischkenntnisse zusammen und las nicht das vor, was auf dem Zettel stand, sondern sagte, als ich an der Reihe war: »You better don’t eat this cookie!« Alle außer Don, der unter den Fransen seiner Topffrisur die Augen verdrehte, lachten. Hazel konnte gar nicht mehr aufhören. Wir mochten uns wirklich. Nach dem Essen fuhren Bill in seinem Schrottauto und Brian in seinem Jeep davon. Sie hatten beide eigene Wohnungen in der Stadt. Don sagte: »I’ll take a little ride«, und stieg in sein mit Spoilern aufgemotztes, aber trotzdem irgendwie billig aussehendes Auto. Es war metallicblau, am Rückspiegel, das erkannte ich durch die getönte Scheibe, pendelte ein Totenkopf.
    Ich fuhr mit Stan und Hazel nach Hause. Als wir ausstiegen, war es merklich kälter als in der Stadt unten. Ich sagte ihnen, dass ich noch einen kurzen Spaziergang machen wolle. Ich klopfte auf meinen Bauch, blähte die Wangen auf und machte ein Ich-hab-zu-viel-gegessen-Gesicht. Stan sagte: »Don’t get lost!« Ich spazierte zum Ende der Sandstraße, überquerte den Wendekreis und lief in die Prärie hinein. In der Ferne sah ich den Highway, auf dem Lastwagen groß wie Häuser fuhren, und dahinter Bergschatten. Was ist das hier nur für eine seltsame Luft, dachte ich. Mitten im Sommer riecht es nach Schnee! Ich ärgerte mich, dass ich mich nicht besser auf Englisch ausdrücken konnte und so wie eben andauernd Pantomimen vorspielen musste, um mich verständlich zu machen. Wie lange würde es dauern, bis ich ohne zu überlegen einfach »Ich hab, glaub ich, ein bisschen viel gegessen. Ich geh noch ein Stückchen. Bis gleich!« würde sagen können? Ich sah mich um. Weiter, als ich gedacht hatte, war ich von der Siedlung entfernt. Unser Holzhaus war kaum zu sehen, weil es hinter den nachtschwarzen Bäumen verborgen lag. Doch da, ein beleuchtetes Fenster. Ich kam zu einem sanften Anstieg, der auf eine Kuppe führte. Oben angekommen setzte ich mich auf einen Stein. Es wehte ein leichter Wind und das Präriegras wogte in der Dunkelheit. Ich dachte an zu Hause und bekam sofort Heimweh. So war das immer. Wenn ich nicht an zu Hause dachte, nicht telefonierte, nicht schrieb, war alles gut. Sobald ich aber das Foto meiner Freundin sah, wurde ich unglücklich. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte mit Heimweh gerechnet. Aber doch nicht jedes Mal, sobald ich an zu Hause dachte. Um hier in dieser Westernwildnis überhaupt eine Chance zu bekommen, würde es wohl darauf hinauslaufen, so wenig Kontakt nach Deutschland zu haben wie möglich. Ich hatte mir dieses Jahr immer ganz kleingeredet, zu einer winzigen Zeiteinheit zusammengeschnürt. »Guck mal«, hatte ich zu meiner Mutter gesagt, »was war denn heute vor einem Jahr? Heute vor einem Jahr ist Aika auf der Flensburgerstraße von einem dänischen Autofahrer angefahren worden. Und kommt dir das lange her vor? Also, mir kommt das so vor, als wäre es gestern gewesen. Genau so wird es sein, wenn ich wieder da bin, wenn ich nach einem Jahr wieder nach Hause komme. Es wird uns allen so vorkommen, als wäre ich gerade eben erst abgeflogen.«
    Jetzt saß ich mitten in der vom Wind bewegten Prärie und einzelne Sterne flackerten unruhig

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