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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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werden, dass ich mich nach einem Ventilator gesehnt hätte. Als ich einmal den Badezimmerventilator auf höchste Stufe stellte, wehte der Wind so stark, dass ich auf die Klobrille pinkelte. Stundenlang ließ ich mich von meinem Deckenventilator hypnotisieren. Unter mir das schwankende Wasserbett, über mir die träge kreisenden Ventilatorblätter und in mir noch immer die zurückgelassene Zeit. Ich geriet in Trancezustände, fühlte mich wie ein Astronaut, der bei einer Reparatur sein Raumschiff losgelassen hatte, eine Gedankenlosigkeit, und nun für immer im Orbit trieb. Ich hatte mir in Deutschland viele Dinge vorgestellt und ausgemalt. Zum Beispiel, dass meine Gasteltern vielleicht eine schöne Tochter haben würden. Bevor der Brief aus Laramie mit dem alle Fantasien eliminierenden Familienfoto kam, hatte ich mich in abenteuerliche Romanzen mit dieser Gastschwester verstiegen. Hatte sie nebenan im Zimmer warten und in der Finsternis auf Zehenspitzen zu mir, dem geheimnisvollen Exchange-Student, herüber in mein Bett schleichen lassen. Im Mondschein ließ sie ihr Nachthemd über die Schultern gleiten und schlüpfte unter meine Decke.
    Aber hier ist ja alles genau wie bei mir, dachte ich in der Ventilatorbrise: arbeitende Eltern, freundlich, aber nie da. Und wenn sie kamen, setzte sich Stan in den Lehnstuhl und las Zeitung. Hazel ging in die Küche und kochte. Dann guckten beide Fernsehen, bis sie müde wurden. Jeden Abend sahen wir die Johnny-Carson-Show, bei der der Moderator, eben dieser Johnny Carson, andauernd seinen Stift in die Luft warf und wieder aufzufangen versuchte. Alle Brüder waren aus dem Haus. Und der, der neben mir im Zimmer wohnte, dieser Donald, kam erst in einer Woche wieder. Komisch sah der aus. Von mir aus konnte der auch wegbleiben. Und einen Hund hatten sie auch. Alles genau wie bei mir zu Hause. Unseren Hund vermisste ich sehr. Vielleicht sogar am meisten. Zum amerikanischen Gasthund hatte ich anfangs ein liebevolles Verhältnis, auch wenn ich mich vom ersten Moment an vor seiner rosa Zunge, den Zähnchen und insbesondere vor den kleinen, stets nassen Löckchen um seine Schnauze herum ekelte und auch vor den Schleimperlen in seinen Augenwinkeln. Während der ersten Nächte schlief er in meinem Bett und Hazel sagte: »He likes you. But just wait till Don gets home!«
    Exakt acht Tage nach meiner Ankunft saßen wir zu dritt vorm Fernseher und aßen Eis. Stan hatte mir seine Lieblingseisrezeptur zubereitet: ein großes Glas, zwei Kugeln Vanilleeis mit einer Dose Cherry Coke übergossen. Die Mischung brodelte wie in einem alchemistischen Experiment und ein Blasen werfender Schaum quoll empor, den man vom Rand schlürfen musste, um ein Überlaufen zu verhindern. Der Raum, der sogenannte living-room, wurde erfüllt vom Kriegsgeschrei der Indianer. Die angegriffenen Siedler hatten sich in einer Wagenburg verschanzt. Überall lagen tote Männer mit Pfeilen im Rücken. Die ›Hu Hu Hu Hu‹-machenden Rothäute kannten kein Erbarmen. Ein Indianer mit pechschwarzen Haaren, die aussahen wie eine billige Faschings-Perücke, zückte sein Messer, beugte sich über einen Toten, nahm dessen Haarschopf und setzte das Messer an. Ein erregtes Bellen mischte sich in die Todesschreie. Hazel: »What’s that?« Stan: »What do you mean?« Hazel stellte den Ton leiser. Da hörten wir es deutlich. Aufgeregtes Bellen. Hazel sprang auf, rannte zur Haustür und rief den Hund: »Serge! Hey! Come here!« Sie rief zu uns hinüber: »Oh my Goodness. He is under the house!«, und rannte los. Ich konnte nicht ganz glauben, was meine Übersetzung ergab. Der Hund ist unterm Haus? Konnte das stimmen? Stan und ich gingen hinaus. Wir hörten Hazel schreien: »NO ! NO ! Let it go! Oh no!« Wütendes Kläffen und Knurren. Hazel hatte sich hingekniet und brüllte die Bretterwand an: »Get out of there!« Ich sah aufgewühlte Erde, einen freigescharrten Gang, der unter der Bretterwand hindurch unters Haus führte. Hazel sagte zu Stan: »I hope it’s a mouse or something like that!« Da jaulte der Pudel. Sein Kopf kam zum Vorschein, er kroch aus dem Loch und raste davon. Im selben Moment, als ich den Pudel aus dem Loch robben sah, roch ich etwas. Einen unbekannten, süßlich-schneidenden Geruch. Von einer Sekunde auf die andere wurde mir übel. Hazel schrie: »He’s running into the house! Stan, catch him!« Doch Stan stand nur da, sah aus, als wäre er volltrunken, wandte sich ab und übergab sich gegen die Hauswand. Als Nächstes

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