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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Endzeitdunkel vor, wie ein kompletter Trottel benommen. Und das sollte erst zwei Wochen her sein? Wieder knipste ich das Licht an, stand auf und stopfte das grobmaschige Schmuseschaf zu den Fotos hinter die Winterpullover. Endlich fühlte ich mich leichter, vom heimatlichen Liebesballast befreit, und schlief ein.
    Geweckt wurde ich von Don, der mitten in der Nacht in Unterhose durch mein Zimmer ins Bad ging und flüsterte: »Don’t you ever lock my door again when you’re not in that bathroom!« Er knallte meine Badezimmertür zu und schloss sie hinter sich ab. Es stimmte. Ich hatte vergessen, seine Tür wieder aufzusperren, nachdem ich auf dem Klo gewesen war. Na, so schlimm ist das auch nicht, dachte ich erschöpft. Was ist das bloß für ein Hirni! Was hatte der da eigentlich gerade für eine Unterhose an? Ich war mir nicht sicher, ob ich das richtig gesehen hatte. Zwischen den Minipobacken verschwand ein dünnes Band?
    Während der nächsten Wochen wurde dieses Badezimmer zwischen mir und Don zum Dauerstreitthema. Ein Kriegsschauplatz mit zwei Eingängen. Wer durfte wo und wie seine Handtücher aufhängen? Wessen Haare sammelten sich im Abfluss? Was waren das für widerliche Spritzer auf dem Spiegel? Und mich ärgerte, wie lange er im Bad blieb. Da ich mich nicht traute, in das Badezimmer zu gehen, das man nur durch Stan und Hazels Schlafzimmer erreichen konnte, kam es sogar vor, dass ich zum Pinkeln ein Stück in die Prärie rannte.
    Da ich damals in dem Fragebogen, um meine Chancen auf den Austausch zu erhöhen, auf dem Fragebogen »strenggläubig« angekreuzt hatte, musste ich nun dreimal die Woche mit meinem Gastvater in die Kirche. Nicht nur zum Gottesdienst. Vor dem Gottesdienst musste ich die Kirche fegen, Gesangbücher verteilen und den Altar polieren. Dreimal die Woche. Das war schrecklich. Ich hatte von meiner Mutter für die Kirchgänge, von denen ich ja gewusst hatte, dass sie auf mich zukommen würden, einen schwarzen Anzug bekommen. Leider konnte ich keine Krawatten binden und musste jedes Mal Stan um Hilfe bitten. Wenn ich mich in diesem Anzug neben ihm auf dem Weg zur Kirche im Auto sitzen sah, kam ich mir vor wie ein besessener Missionar mit seinem strengen Mormonen-Vater auf der Jagd nach verlorenen Seelen.
    Brian und Bill kamen jeden Abend zum Essen. Nun, da die Familie bei diesen Mahlzeiten wieder komplett war, wurde vor jeder Mahlzeit gebetet. Aber kein kurzes aufmunterndes Tischgebet. Es wurde still gebetet, jeder für sich. Lange. Unendlich lange. Das Essen stand da. Sie bewegten ihre Lippen. Leises Gemurmel. Don hatte die Augen nicht ganz geschlossen. Ich wusste nie, ob er noch etwas sehen konnte, verzückt betete oder mich beobachtete. Das war vor jedem Essen eine Tortur, diese fünf Minuten Totenstille. Geheimnisvoll und unentschlüsselbar blieb für mich das gleichzeitige Augenaufschlagen der so betenden Familie. Synchron hoben sie die Köpfe, wünschten sich einen guten Appetit und nahmen sich vom nur noch lauwarmen Essen.
    Don hatte wieder zu arbeiten begonnen. Er ging am frühen Abend mit einer Tasche zum Auto und kam erst spätnachts wieder zurück. Schlich sich in einer grotesken Pizzauniform ins Haus, auf dem Kopf eine pizzaähnliche Baskenmütze, auf die Pepperoni und Pilze aufgenäht waren, schloss sich in seinem Zimmer ein und spielte Schallplatten von Olivia Newton-John. Ich hörte ihn, wie er in seinem Zimmer auf und ab ging. Und hin und wieder, nachdem er seine Schranktüren erst auf- und dann wieder zugemacht hatte, höchstwahrscheinlich, um die Pizzamontur hineinzuhängen, ein verdruckstes Knurren. Während der ersten Nächte hatte ich tatsächlich geglaubt, er würde in seinem Zimmer den Pudel ärgern, der mich, seit Don das Haus betreten hatte, wie prophezeit keines Blickes mehr würdigte. Aber als ich mich durch den Flur ins Wohnzimmer schlich, lag Serge friedlich schlafend in seinem kitschigen, mit Knochenmotiven bedruckten Hundekörbchen. So weit, dass ihn Don in seinem Bett schlafen ließ, ging die Liebe dann also doch nicht. Ich tastete mich zurück in mein Zimmer. Das Knurren mischte sich mit ruckartig ausgestoßenen Atemgeräuschen, wie ich sie von mir kannte, wenn ich schnell gelaufen war und vornübergebeugt versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich meinte auch, seine Fistelstimme zu hören. Gemurmel, unterbrochen von – ich war mir nicht ganz sicher – geflüsterten Flüchen. Wenn das Hecheln verstummte, wurde es für knapp fünf Minuten totenstill nebenan.

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