Alle Toten fliegen hoch: Amerika
wieder und ich sage dir, was ich mir ausgedacht habe. Jetzt gib mir noch mal den Mann von eben.« »Bis heute Abend, Papa. Ich hab dich lieb.« »Ich dich auch.« Ich rief zum Reiseleiter hinüber, der an einem Tisch saß und Kunststücke mit Bierdeckeln übte: »Mein Vater möchte sie noch mal sprechen!« Ich übergab den Hörer und er sagte mehrmals »Ja, klar!« und »Mach ich!« und lächelte und sagte: »Ja, machen Sie sich keine Sorgen. Das kriegen wir schon hin. Bis heute Abend!« Er hängte ein und fragte mich: »Möchtest du heute vielleicht einfach mal bei den Erwachsenen mitfahren?« »Ich bin aber nicht so gut!« »Ach, das schaffen wir schon!«
Auch wenn ich mich dagegen wehrte und versuchte, meinem Heimweh treu zu bleiben, es wurde ein schöner Vormittag. Wir fuhren sanfte Pisten hinunter und der Erwachsenenskilehrer nahm sich Zeit für mich. Er brachte mir bei, im richtigen Moment mein Gewicht zu verlagern und den Skistock einzusetzen. Plötzlich funktionierte es und ich kam besser um die Kurven. Ich half beim Wachsen der Ski. Durfte mit einem alten Bügeleisen das Wachs auf den Skiern verteilen. Das roch gut. Zum Dank lud mich der Lehrer zu einem Getränk ein. Ich nahm eine kleine Flasche Pfirsichnektar. Trank den dickflüssigen Saft in der Sonne, an eine warme Hauswand gelehnt. Mein Heimweh wurde kleiner und kleiner, tropfte wie der Eiszapfen an der Regenrinne über mir und schmolz dahin. Am Nachmittag war das sogenannte Freifahren. Ich traf einen der Jungen aus der Fortgeschrittenengruppe. Er schwärmte von einer Tiefschneeabfahrt. Wir fuhren mit dem Lift hinauf. Steil ging es zwischen Bäumen hinab. Ich haderte mit mir, doch dann sagte ich »Das ist mir zu steil« und nahm eine planierte Abfahrt. Am Abend durfte ich zusammen mit dem Reiseleiter einen Sketch vorspielen: Ich hatte meine Zahnbürste an ein Band gebunden und zog sie hinter mir her. Der Reiseleiter spielte den Irrenarzt und fragte mich: »Ja, was machen Sie denn da, Herr Patient? Warum ziehen Sie denn die Zahnbürste hinter sich her?« Ich antwortete: »Schieben geht nicht!« Das war alles. Aber es wurde geklatscht und der Junge mit der Narbe kam zu mir und sagte: »Guter Sketch!«
Gegen zehn rief ich meinen Vater an. »Hallo, ich bin’s!« »Na! Und wie war der Tag heute?« »Ging so.« »Du klingst aber viel besser.« »War auch besser!« »Erzähl mal, was hast du heute gemacht!« Ich hätte meine Niedergeschlagenheit gerne weiter durchgehalten. Es war mir inzwischen etwas peinlich, mich selbst als manisch-depressiv bezeichnet zu haben. Nach so einem herrlichen Tag! Mit jedem Wort wurde ich froher. Schließlich sprudelte alles aus mir heraus. Kurz bevor ich auflegen wollte, fiel mir noch etwas ein: »Was hast du dir eigentlich überlegt, Papa, um mich heimzuholen?« Mein Vater stockte und sagte: »Na ich … äh … hätte dich geholt!« »Echt?« »Klar.« Seltsamerweise lösten sich in dieser Nacht die klammen Daunenklumpen in meiner Bettdecke auf und auch der Schweinestallgeruch war verschwunden.
An diese Reise dachte ich in meinem Laramier Bett. Ich machte meine Nachttischlampe wieder an und betrachtete all die Fotos, die ich aufgehängt hatte. Alle meine Lieben, in vertraute Gesten gebannt. So wachten sie über mich. Direkt neben meinem Kopf lag auf der Wasserbettmatratze ein von meiner Freundin selbst gestricktes Schaf. Mit den Worten »Damit du mich nicht vergisst und was zum Schmusen hast!«, hatte sie es mir geschenkt. An diesem Abend, nach nur zwei Wochen in der Fremde, baute ich meinen Heimwehaltar ab. Ich nahm alle Fotos von der Holzwand. Es war mühsam, die mit großer Liebe für alle Ewigkeit in die Bretter gedrückten Heftzwecken herauszubekommen. Meine Eltern, die Brüder und Großeltern, meine Freundin, ja sogar der Hund kamen in einen Umschlag und hinter die Pullover in den Schrank. Ich knipste das Licht wieder aus und fühlte mich besser. Ich hatte noch nie in einem so stockfinsteren Zimmer gelegen. Wie ein Organ in einem Körper. Ich legte meine Hand unter den Kopf und streifte das Strickschaf. Ich nahm es in die Hand. »Damit du mich nicht vergisst und was zum Schmusen hast.« Schon als meine Freundin diesen Satz zu mir gesagt hatte, fand ich das Wort »Schmusen« abstoßend. Ich hatte mir nichts anmerken lassen, das Schaf geherzt und geküsst und immer wieder »Oh, ist das schön!« und »Echt, das hast du selbst gestrickt? Für mich?« gerufen. Ich hatte mich, so kam es mir in diesem amerikanischen
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