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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Dann ging Don ins Bad und schloss meine Tür ab. Zwischen dem Pinkelgeräusch und dem Betätigen der Klospülung lag stets eine unbegreiflich lange Pause. Das machte mich wahnsinnig in meinem Bett. Mein Gott, jetzt zieh bloß!, hätte ich am liebsten gebrüllt. Ich zog die Spülung schon immer, während ich pinkelte, und jahrelang hatte mich ein seltsamer Ehrgeiz getrieben, so schnell zu pinkeln, wie es dauerte, dass das Wasser durchs Klo rauschte. In ein stilles Klo hineinzupinkeln, in diesen deprimierenden Minisee, hatte ich stets als eine traurige Angelegenheit empfunden. Don drehte den Wasserhahn auf. Lange hörte ich ihn plätschern, dabei pfeifen. Wenn er fertig war, schloss er meine Tür wieder auf, und der schmale Lichtstreif unter der Tür im Bad verschwand. Er ging zurück in sein Zimmer, hob die Nadel vom Plattenspieler, zog an der Kordel seiner Lampe, und ich konnte endlich, endlich schlafen.
    Ich brauchte Wochen, um mich an diese nächtlichen, penetrant zähen Rituale zu gewöhnen. Alle waren freundlich zu mir, doch Don gab sich keinerlei Mühe, seine Abneigung gegen mich zu verhehlen. Er verzog das Gesicht, wenn er mein Englisch hörte, und korrigierte mich penibel. Wenn seine Eltern nicht dabei waren, nannte er mich »The German Robot«. Dabei wurde mein Englisch von Tag zu Tag besser und als nach fünf Wochen endlich die Highschool begann, traute ich mich schon, in ganzen Sätzen zu sprechen. Mein Ohr hatte sich auf das nuschelige Amerikanisch eingeschwungen und ich verstand immer mehr. Ich hatte mich endgültig damit abgefunden, nicht in Kalifornien oder in einer großen Stadt zu sein. In den letzten Nächten hatte ich nachts Wölfe heulen gehört. Das mochte ich an Laramie. Dieses Wolfsgeheul. Es erinnerte mich an das Heulen der Patienten in der Psychiatrie, in deren unmittelbarer Nähe ich aufgewachsen war. Mir gefiel die Leere und Weite besser und besser. Fünfhunderttausend Menschen leben in Wyoming auf einer Fläche, die so groß ist wie Deutschland. Nur in Alaska leben noch weniger. Meine Highschool hatte einen eigenen Flugplatz, da einige Schüler jeden Morgen mit dem Flugzeug angeflogen kamen. Die Ausreden fürs Zuspätkommen waren nicht so läppisch wie bei mir zu Hause. »Mein Wecker hat nicht geklingelt«, oder »Ich habe den Bus verpasst«. Hier hieß es »Excuse me please, but I got caught in a blizzard with my plane«, oder »I’m sorry, but we had to drop some hay for our cows ’cause they’re stuck in the snow!«.
    Eine Woche vor Schulbeginn erfuhr ich, dass es bis zum Beginn der Basketballsaison noch ganze drei Monate dauern würde. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das war ein Schock für mich. Ich wollte gleich am ersten Tag mit dem Training beginnen, mich der größten Herausforderung dieses Jahres stellen, dem Kampf, es in die erste Mannschaft zu schaffen, und nun sollte ich mich noch drei weitere Monate gedulden. Es war hart, diesen Traum zu verschieben und sich einem anderen Sport zuzuwenden. Zum Schwimmen hatte ich keine Lust mehr. Meine halbe Jugend hatte ich damit verschwendet, stoisch im Chlorwasser meine Bahnen zu ziehen. Und auch wenn ich es zum Kreismeister über hundert Meter Brust gebracht hatte, Schwimmen langweilte mich. Ich wollte Basketball spielen – und jetzt das. Dabei hatte ich in Deutschland in jeder freien Minute geübt. Hatte im Wettlauf mit dem hereinbrechenden Abend auf den Basketballkorb geworfen, den mir mein Vater an die Rückwand eines der Psychiatriegebäude gleich neben unserem Haus hatte montieren lassen.
    In der Highschool hatte ich ausschließlich Fächer gewählt, die mir gefielen. Da meine schulischen Leistungen in Deutschland nur durch teuer bezahlte Nachhilfestunden, die ich fast jeden Nachmittag mit pensionierten Lehrern in ihren brachliegenden Exarbeitszimmern verbrachte, nicht ins Bodenlose stürzten, war es illusorisch, nach meiner Heimkehr in meinen alten Jahrgang zurückzukehren. Mir war das von Anfang an klar gewesen. Eigentlich war ich nur durch mein Amerikajahr dem drohenden Sitzenbleiben entronnen. Ich würde ein Jahr verlieren und in Deutschland in eine neue Klasse kommen. Dadurch hatte ich jetzt in Laramie alle Freiheiten. Keinen einzigen Pflichtkurs musste ich besuchen, um ihn mir für Deutschland anrechnen zu lassen. Ich durfte machen, was ich wollte. Ich stellte mir für das erste Halbjahr einen unglaublichen Stundenplan zusammen. Doch leider am Nachmittag, nach den Schulstunden: kein Basketball! Erst im November würden die

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