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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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of vacation. Gee! Your parents will think Americans are lazy!«
    Die Englischklasse unterrichtete John Kirkwood. Ein kleiner Mann mit einem buschigen Schnauzbart, über dem Bauch stramm gespanntem Hemd und empfindlichen Ohren. Oft sagte er, obwohl es in der Klasse vollkommen still war, mit flehender Stimme: »Please. Please, calm down!« Wir lasen amerikanische Kurzgeschichten, mussten Referate halten und Aufsätze schreiben. Es war die einzige Stunde, für die ich Hausaufgaben aufbekam und viel tun musste. Als ich in einer Schulpause sah, wie ein Lastwagen mit Schafen vor der Highschool parkte, die blökenden und bockenden Tiere auf einer steilen Metallrampe von der Ladefläche gezerrt wurden und im Schultrakt des Agricultural Departments verschwanden, war ich mir sicher, dass Schlachten auch zum Schulstoff gehörte. Ich war heilfroh, den Kurs nicht genommen zu haben. Stunden später aber sah ich, wie die Schafe unter freiem Himmel auf dem Sportplatz von Schülern geschoren wurden. Die Tiere wurden dafür auf den Hintern gesetzt und die Wolle fiel in breiten Bahnen auf die Wiese. Da war ich dann doch neidisch. Über das Baseballfeld hinweg flogen Wollfusseln und hingen noch wochenlang im Gitter hinter dem Baseballabschlag. Als ich einmal Unterrichtsmaterial, das ich dringend für einen Englischtest brauchte und vergessen hatte, aus der Klasse holen wollte, hörte ich von innen dröhnende klassische Musik. Ich klopfte mehrmals an. Als niemand antwortete, trat ich ein. John Kirkwood stand im Frack, mit verklebtem Haar hinter dem Pult und dirigierte mit geschlossenen Augen. Unbemerkt schlich ich zu meinem Platz und holte die Hefte. John Kirkwood wiegte sich in den Hüften und seine Hände massierten und peitschten die Luft.
    Meine sechste und letzte Stunde hieß »Searching for Identity«. Der Lehrer sagte uns gleich in der ersten Stunde, dass er gar kein Lehrer sei und sich auch nicht als Lehrer empfände. Wir sollten ihn »Coach« nennen: Coach Kaltenbach, gesprochen: Kaltenbakk. Er war höchstens eins sechzig groß und seine Muskeln waren so bombastisch, dass er seine dickflüssigen, spermafarbenen Eiweißgetränke, die vor ihm auf dem Lehrerpult – oder richtiger Coachpult – standen, nur noch mit einem langen Strohhalm zu sich nehmen konnte. Weder mit Gläsern noch mit einem Löffel erreichte er seinen Mund. In seinen Unterrichtsstunden lernte ich, Ytongplatten, auf die ich die Vornamen meiner Eltern geschrieben hatte, mit einem Fausthieb zu zerschmettern. Oder wir verbrannten im Pausenhof selbst gestaltete Masken aus Pappmaschee, die unseren inneren Dämon darstellten.
    In seiner letzten, wohlgemerkt unfreiwillig letzten, mir unvergesslichen Stunde an der Laramie Highschool lernten wir das stoische Ertragen von Beleidigungen. Dafür musste man sich auf einen Stuhl setzen und sich aus kürzester Distanz von allen anderen der Reihe nach Gemeinheiten ins Gesicht brüllen lassen. Coach Kaltenbach selbst setzte sich auch auf den Stuhl und einer nach dem anderen musste ihn zusammenbrüllen. Er saß einfach da, aufrecht, Kaugummi kauend, sah einen direkt an und lächelte verzeihend. Man durfte, ja musste alles sagen, was einem einfiel. Ich wurde hauptsächlich als »gay Nazi« beschimpft, oder man behauptete, dass meine Mutter Hitlers Schwanz gelutscht hätte: »Your mother loves to suck Hitlers dick!« Ein übergewichtiger mexikanischer Schüler konnte wirklich böse sein. Er brüllte gar nicht. In ganz normalem Ton sagte er zu mir: »Asshole, you will never be one of us.«
    Und dann stand genau dieser dicke Mexikaner vor Coach Kaltenbach. Er sagte nichts weiter als einen Namen: »Michelle.« Dieses »Michelle« verwandelte Coach Kaltenbach. Zuerst dachte er wohl, sich verhört zu haben, dann aber bekam er milchige Augen wie ein gekochter Fisch. Er stürzte sich auf den Mexikaner und schrie mit überraschend schriller Stimme: »Never say this name again.« Coach Kaltenbach krallte sich in den fetten Mexikaner und schüttelte ihn. Doch der wehrte sich nicht. Die Schläge wabbelten in Wellen durch das mexikanische Fett hindurch, aber sonst bewegte er sich nicht. Coach Kaltenbach atmete immer mehr Luft ein, aber keine aus, und sein riesiger Brustkorb blähte sich auf. Voll aufgepumpt setzte er sich wieder auf den Stuhl und sagte: »Next one.« Keiner bewegte sich. »Next one!« Niemand wollte mehr etwas Bösartiges sagen, aber genau dadurch wurde es nun wirklich unangenehm. Die wilden Obszönitäten waren viel harmloser

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