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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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denken konnte, hatten mir Diktate Angst gemacht. In Laramie saß ich im sogenannten Foreign Language Department völlig sorgenfrei am angenehm hohen Schultisch, schrieb ohne Eile, was Donna Candalaria diktierte, und hatte sogar noch Zeit, zwischen den Sätzen die Morgenparade der Laramie Highschool Plainsman Band auf dem Footballfeld zu beobachten. Donna Candalaria war sehr nett zu mir. Aber im Grunde war ihr meine Anwesenheit unangenehm. Sie fühlte sich beobachtet, ja überwacht. Meine muttersprachliche Unanfechtbarkeit verunsicherte sie. Andauernd verhaspelte sie sich und sah dann entschuldigend zu mir hinüber. Sie war nie in Deutschland gewesen und ihr Wortschatz war von den deutschen Klassikern, ihrer Lyrikleidenschaft, geprägt. Sie sagte Sätze wie: »Wir werden heute dem Sommer huldigen und uns hinausbegeben!«
    Dritte Stunde: Woodworking bei Larry Fulton. Die Schule hatte eine komplett eingerichtete Tischlerwerkstatt. Die Kreissäge kreischte und zerschnitt die Bretter wie Brot. Es wurde gehobelt, geschraubt, gebohrt und gehämmert. Alle hatten blaue Arbeitslatzhosen an und Ohrenschützer auf. Der Lehrer wurde mit Vornamen angesprochen. Er lief während der Stunde an den Arbeitstischen vorbei und gab Tipps. »Looks good!« »Thanks, Larry!« Wir bauten rustikale Möbel und Vogelhäuser von besorgniserregender Größe. Ich sah einen Jungen, der für seinen von einem Nachbarfarmer erschossenen Hund ein zwei Meter großes Kreuz aus Zedernholz tischlerte. Als das Kreuz fertig war, standen wir alle drum herum und Larry sagte: »Good job!« Der Junge sagte: »His name was Brandy!« Er schlug mit Hammer und Meißel die Buchstaben aus dem duftenden Holz. Plötzlich schleuderte er seinen Hammer gegen die Wand und rannte aus der Werkstatt. Wir anderen gingen zum Kreuz. Da stand BRADY . Er hatte sich vor Trauer verschrieben.
    Vierte Stunde: Theater. Drama Club bei Stacy Lewis. Wir bauten das Bühnenbild, bastelten die Requisiten und schneiderten unsere Kostüme selbst. Stacy Lewis war von uns allen begeistert. Egal was man tat, sie rief: »Oh my Lord, that was amazing. God, you are so intense!« Das Theaterstück, das wir probten, hieß »The Secret Life of Walter Mitty«.
    Es war die Geschichte eines alten Mannes, der mit seiner Frau im Auto unterwegs ist und in Tagträume flieht, in seiner Vorstellung verschiedene Episoden erlebt. Immer bevor er aus der Wirklichkeit gleitet, hört er ein Geräusch. »Tapocketa – pocketa – pocketa«. Oder war das nur in unserer Aufführung so? Er stellt sich zum Beispiel vor, er sei ein Flugkapitän, und seine Frau meckert: »Fahr nicht so schnell.« Beim Einparken sieht er sich als berühmten Arzt, Chirurg Dr. Mitty, während einer komplizierten Operation, und seine Frau schimpft: »Halt, halt! Siehst du denn nicht den Buick!« Ein Parkwächter hilft ihm beim Einparken. Der Parkwächter war meine Rolle. Es gab verwirrende Szenen, einen Mordprozess, eine Prügelei. Mitty als todesmutiger Bomberpilot, der im deutschen Luftkrieg kämpft, und Mitty vor einem Exekutionskommando: Heldenhaft verzichtet er auf die Augenbinde. Wir diskutierten, hatten Krisen und Kräche, probten weiter. Stacy Lewis war Ende dreißig und immer so gut gelaunt, dass ich gar nicht erkennen konnte, wie sie wirklich aussah. Selbst wenn sie ergriffen war und weinte, lachte sie dabei. Sie kam dann auf die Bühne, tippte sich mit dem Zeigefinger in die Augenwinkel, zeigte ihn herum und strahlte: »Hey, come on! What did you do to me? Tell me, what’s that? WHAT’S THAT ? TEARS . For heaven’s sake. THESE ARE TEARS . Jesus, you are so intense, you made me cry!« Alle klatschten. Wir beklatschten sie, weil sie weinte, und uns, weil wir sie zum Weinen gebracht hatten.
    Fünfte Stunde: Eigentlich hatte ich mir einen Landwirtschaftskurs ausgesucht: »Agricultural Production 3. Farm and Ranch Management«. Schwerpunkt: beef, sheep and swine. Doch mein ältester Gastbruder Bill riet mir dringend davon ab. Er warnte mich vor den Teilnehmern dieses Kurses. Sie kämen alle von den Farmen des Umlands, hätten raue Sitten und würden Fremde hassen. Um zwei Gruppen hätte er während seiner Zeit auf der Laramie Highschool immer einen weiten Bogen gemacht: um die Ringer, »the wrestlers«, und um die Teilnehmer des Agricultural Departments. Dass ich mich dann für eine ganz reguläre Englischklasse entschied, hatte auch damit zu tun, dass Stan, als ich ihm von meinen Kursen erzählte, gesagt hatte: »Sounds like half a year

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