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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Proteinpulverdosen flogen durchs Auto. Ich sah zu ihm hinüber. Es war wie in einem Witzfilm. Ich hatte nicht gewusst, dass ein Auto so scheppern konnte. Die Erschütterungen ließen meine Augenlider auf- und zuklappen. Die Landschaft zerriss in lauter Fetzen. Coach Kaltenbachs Muskeln krabbelten auf ihm herum. Sein Gesicht schlabberte wie bei einem Hundertmeterläufer in Zeitlupe. Wir blieben wieder stehen. Coach Kaltenbach stieg aus. Ich auch. Wir standen da. Hinter uns verwehte westernmäßig der Staub und vor uns führte diese Buckelpiste ins Unendliche. »How far is it?« »Far, very far. We still have a long way to go!« »Is there no other road to get there?« »No.« »What äh should äh we do?«, fragte ich. Seine Schultern zuckten ratlos im zu engen T-Shirt. Wir stiegen wieder ein. Coach Kaltenbach sagte: »There is only one thing to do!«, und gab Vollgas. Er krallte sich am Steuer fest und gab immer mehr Gas. Ich bekam Angst. Was wusste ich schon über ihn? Vielleicht hatte ihn die Sache mit dem Mexikaner und dieser geheimnisvollen Michelle so zur Verzweiflung gebracht, dass er sich jetzt ins ewige Nichts hinüberrütteln wollte. Ich brüllte: »Hellelelelelelelelp meeee!« Der Coach sah stoisch durch die staubige Windschutzscheibe – ohne zu blinzeln. Und dann plötzlich: Ruhe! Plötzlich, bei Tempo neunzig, beruhigte sich das Auto, hob ab, schien zu fliegen. Wir lachten uns an und rasten nun fast vibrationsfrei eine gute halbe Stunde bis zum Gefängnis.
    Ich habe Gefängnisse schon immer gemocht. Noch heute gehe ich gerne in Hamburg an Augustabenden in den Botanischen Garten, der direkt an einer Gefängnismauer liegt. Da ich auch botanische Gärten sehr mag, ist der Botanische Garten in Hamburg mein liebster. Es gibt, soweit ich weiß, weltweit keinen anderen botanischen Garten, der unmittelbar an ein Gefängnis grenzt. In der Dämmerung versammeln sich dort die größtenteils aus südlichen Ländern stammenden Angehörigen und Freunde der Eingesperrten. Durch die Gitter schieben sich winkende Hände und in kehligen Sprachen wird hin- und hergerufen. Frauen halten ihre Kinder in die durch die seltenen Blüten des Gartens duftende Abendflaute und die Inhaftierten lachen oder rufen ihren klagenden Singsang hinab in die exotischen Bäume.
    Das Staatsgefängnis von Wyoming lag trist glitzernd hinter gestaffelten meterhohen Stacheldrahtzaunbarrieren, in denen vereinzelt poröse Stofffetzen hingen. Es hatte vier Wachtürme mit abgeschrägten Fenstern, um gut nach unten leuchten und schießen zu können. Vor dem Haupttor war ein großer Parkplatz. Wir meldeten uns an und Coach Kaltenbachs Bruder kam. Er hatte sich gerade die Hände gewaschen und hielt mir zur Begrüßung das Handgelenk hin. Er sah seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich. Im ersten Moment dachte ich sogar, er wäre sein Zwillingsbruder. Aber er schien doch um ein paar Jahre älter zu sein. Sein Haar war schütterer und seine Augen waren von feinen, strahlenförmigen Falten umgeben. Doch auch er war klein, viereckig, mit Muskeln bepackt. Seine Gefängniswärteruniform spannte an den Oberarmen, und als ich hinter den beiden Brüdern herging, dachte ich, mein Gott, was sind das bloß für zwei kurzbeinige Schränke. »Come on«, sagte der Bruder vom Coach zu mir und wandte sich dann zu ihm: »I want to show him our cars.« Der Bruder erklärte mir, was es mit den Autos auf sich hatte. »Es gibt in Wyoming ein Gesetz, dass der Staat alles enteignen darf, was ein Verurteilter besitzt. Alles bis auf eine Sache, und das ist sein Auto. Ohne Auto ist man in Wyoming aufgeschmissen. Deshalb haben diese humanen, schwanzlutschenden Richter irgendwann in den wilden Zwanzigern beschlossen, dass in Wyoming Mobilität zur Menschenwürde gehört.« Wyoming war auch, das wusste ich schon, das hatte ich auch oft genug gesehen, der letzte amerikanische Staat, in dem man offen Schusswaffen tragen durfte. In vielen Pick-up-Trucks hingen Gewehre im Rückfenster. »Hier stehen Autos rum, die vor dreißig Jahren abgestellt worden sind und vom Staat gewartet werden müssen. Wenn jemand in die Freiheit spaziert, steht sein Schlitten, egal wie lange er bei uns war, vollgetankt und gesaugt am Gefängnistor. Schlüssel im Schloss.« Konnte das wahr sein? Wir kamen zum Parkplatz. Bestimmt dreihundert Autos. Zwischen heutigen Modellen blinkten riesige Amikutschen, die ich nur aus Filmen kannte, in der Sonne. »Wir haben hier eine eigene Werkstatt. Zwei Mechaniker sind dafür

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