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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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als das, was jetzt kam: »I think you are a very tiny guy«, oder: »I don’t like coming to your lessons«. Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Stand vor ihm und sah, dass in seinem linken Auge eine Ader geplatzt war. Mir fiel nichts ein. Er starrte mich an. Unter der Haut seiner Oberarme füllten sich Aderknötchen mit lila Blut. ›Fleisch‹ wusste ich. ›Berg‹ wusste ich. Meatmountain. Ich nannte ihn »Meatmountain«. Hinter mir wurde gekichert. Coach Kaltenbach brach der Schweiß aus. »What did you say to me? Say it again!« Leise wiederholte ich es: »Meatmountain.« Stille. Dann schüttelte er den Kopf. Eine geradezu biblische Enttäuschung spiegelte sich in seinen glasigen Augen. »Next one.« Ein Mädchen versuchte ihn mit »You are a wonderful person« zu trösten. Auch der Mexikaner hatte sich wieder angestellt. Mit zerfetztem T-Shirt. Sein Bauch sah widerlich aus, hing über den Gürtel und war voller vernarbter streifiger Risse. Der Coach vibrierte leicht, so wie Tassen auf Untertassen in Erdbebenfilmen. Als der Junge vor ihm stand, sahen sich beide lange an. Der eine saß, der andere stand. Auge in Auge. Und dann brach der Coach seine wichtigste Regel zur Erlangung von Selbstbewusstsein: eye contact! »Always keep eye contact.« Das stand sogar über unserer Klassentür. Augenkontakt war die Grundvoraussetzung. Der Königsweg. Immer dem Gegenüber, dem Objekt der Begierde, dem Feind klar und gerade in die Augen sehen. »Ihr müsst in die Menschen hineinsehen, so wie ihr in euren Fernseher hineinseht!« Von diesem Gleichnis war Coach Kaltenbach besessen. Das war ihm selber eingefallen, das merkte man, da glühte er, da kroch eine missionarische Röte seine Stirn hinauf in sein schütter werdendes Haar hinein. »Es kann doch nicht wahr sein, dass ihr stupide, völlig ohne Angst, stundenlang in euren Fernsehapparat hineinstarrt, es aber nicht aushaltet, einem Menschen, jemandem aus Fleisch und Blut, nur mal für einen Moment ohne Scheu in die Augen zu sehen! Stellt euch einfach vor, in eurem Gegenüber läuft euer Lieblingsprogramm!« Das war sein Dietrich zum Glück: allen Zeitgenossen voll in die Bildröhre starren. Schon bei meinem ersten Treffen mit ihm hatte er mich ununterbrochen angesehen. »Und nicht zwinkern! Niemals!« Er zitierte Muhammad Ali, der seine Gegner angeblich in dem Moment niederschlug, da sie zwinkerten. »Ihr seid das Auto und eure Augen sind eure Scheinwerfer! Wollt ihr fünfzig fahren?« »Nein«, rief die Klasse. »Wollt ihr hundert fahren?« »Nein!« »Wollt ihr zweihundert fahren?« »Jaaaa!« »Also Augen auf und Vollgas.«
    Doch jetzt sah der Mexikaner ihn gelassen an und Coach Kaltenbach senkte langsam den Blick. Wirbel für Wirbel krümmte sich sein Rücken. So erwartete er sein Todesurteil. Der Mexikaner war unerbittlich. Ließ sich Zeit. Entschied sich für Coach Kaltenbachs rechtes Ohr, beugte sich ein wenig vor. Laut, ohne den geringsten Kratzer im Satz, sagte er: »Michelle fucks every horny guy in this school. For free!« Das höre ich heute noch, dieses for free! »Michelle is a whore. Everybody fucks her. For free! Hijo de puta! Anda a la concha de tu madre! Do you hear me: EVERYBODY , except: YOU .« Ich hatte Coach Kaltenbach nicht sonderlich gemocht. Das änderte sich in diesem Moment. Er saß da, verzog das Gesicht, und Tränen tropften auf seine in Stein gemeißelten Oberschenkel. In der Klasse wurde es ganz still. Aber der Mexikaner war immer noch nicht fertig: »Look at me. Look at me!« Coach Kaltenbach flüsterte: »The lesson is over.« »Look at me!« »The lesson is over.« Coach Kaltenbach weinte: »You can leave.« Er hatte lange nicht geweint, das hörte und sah ich. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber seine Schultern wurden ganz schmal, und er gab ein eingerostetes Fiepen von sich. »Please go! … go.«
    Zwei Tage später zog er sich beim Versuch, acht Ytongplatten mit der Stirn zu zerschmettern, eine Platzwunde mit schwerer Gehirnerschütterung zu. Eine ambitionierte junge Psychologielehrerin, Connie Hill, vertrat ihn. Sie stand vor der Klasse, leicht irritiert, sah von einem zum anderen, zupfte sich an der Bluse. Zweiundzwanzig Schüler starrten sie mit geröteten Augen an, ohne zu blinzeln: eye contact. Ihre große Attraktion war ein Lügendetektor. Wieder war es der Mexikaner, der sie zum Weinen brachte. Gleich bei der ersten Vorführung, bei der sie sich selbst angeschlossen hatte, um den Detektor zu erklären, rief

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