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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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ich hatte genug. Sie boten mir sogar an, mich auf der Pritsche festzuschnallen und zu fotografieren! Als Souvenir bekam ich von Coach Kaltenbachs Bruder ein Gefängnishemd geschenkt, genau in dem hellblauen Drillichstoff, der mir so gut gefiel. Auf dem Rücken stand »WYOMING STATE PRISON «.
    Auf der Heimfahrt nahmen wir Coach Kaltenbachs Bruder mit und besuchten ihre Eltern in Rawlins. Der Vater sprang dem Coach zur Begrüßung auf den Rücken und sie drehten eine Runde auf der Einfahrt. Er sah eher aus wie ein noch älterer Bruder, ebenfalls klein gewachsen und mit etwas in die Jahre gekommenen Muskelbergen bepackt. Die Eltern hatten schon auf uns gewartet und es gab etwas zu essen. Coach Kaltenbachs Mutter war noch kleiner als ihre Söhne. Auch sie hatte ein breites Kreuz, dicke Bizeps in der Bluse. Besorgt sah sie ihren Sohn von schräg unten an. Seine Stirn, die blutunterlaufenen Augen. Er bekam ein neues Pflaster und eine duftende Salbe. Der Geruch dieser Salbe, Kampfer, Menthol, umhüllte Coach Kaltenbach später auf der Rückfahrt.
    »Hurry up« rief sie, »hurry up, dinner is starting!« Direkt neben dem Tisch stand ein Fernseher. Eine Sendung begann, in der eine Familie um einen Tisch herum saß, der genauso aussah wie der Tisch, an dem ich jetzt saß. Die gleiche Tischdecke, die gleichen gemusterten Teller und Gläser. Ja, es sah sogar so aus, als würde die Tischdecke in den Fernseher übergehen. Die Fernsehmutter brachte das Essen. In dem Moment kam auch Coach Kaltenbachs Mutter mit dem Essen. Wir beteten und auch die Fernsehfamilie betete. Und dann gab es für uns alle das gleiche Essen. Weiche, mit Truthahn und Pilzen gefüllte Tortillas. Der Familie im Fernsehen schmeckte es ausgezeichnet und sie überhäufte die Mutter mit Lob. Selbst das kleine blond gelockte Mädchen rief strahlend: »I want some more! Mommy, you are the best mother in the whole wide world.« Sie waren trotz der Riesenportionen, die sie in sich hineinschaufelten, alle schlank. Wir aßen eher schweigsam die leicht versalzenen Tortillas und starrten in den Fernseher. Als die Fernsehfamilie aufgegessen hatte, drehte sich plötzlich die Mutter auf ihrem Stuhl herum und sprach uns direkt aus dem Gerät heraus an. »Well, did you like it?« Coach Kaltenbachs Vater murmelte »Not really!«, wurde aber augenblicklich durch ein »Pssst!« seiner Frau niedergezischelt. Im Fernsehen wurde das Rezept für den nächsten Tag angekündigt. Zum Abschied winkte die tortillabeglückte Familie uns zu. Die Sendung hieß »Eat with us!«. Sie sahen sie jeden Abend. Coach Kaltenbachs Vater war schon in Rente, aber auch er war Gefängnisaufseher gewesen. Er erinnerte sich gut an Randy Hart. Er wäre so ein freundlicher Mensch – »educated!«. Hätte aber in all den Jahren nie Besuch bekommen. Monatelang war er friedlich gewesen, aber dann, aus dem Nichts, konnte er gewalttätig werden und um sich schlagen. Danach sei er dann jedes Mal fassungslos über sich selbst gewesen.
    Am späten Nachmittag, große Raubvögel kreisten über dem Haus, musste ich mich im Garten auf einen Stuhl setzen. Der Garten war nichts weiter als eine sandige Fläche, auf der die gleichen Gräser wuchsen wie jenseits des Zaunes, wo bereits die Prärie begann. Vater, Mutter und beide Söhne verschwanden im Haus. Ich saß da, wartete und fragte mich, warum ausgerechnet über dem Haus der Kaltenbachs Adler wie Geier kreisten. Ich hörte zuerst die Musik. Dann kam langsam eine chromglänzende, altmodisch geschwungene Stoßstange um die Ecke, eine lackrot glänzende Kühlerhaube. Darauf stand Coach Kaltenbachs Mutter, eingeölt, in einem knappen Trikot. Sie hatte die Arme erhoben, abgewinkelt, und ihre großen Bizepse glänzten in der Sonne. Das Auto schob sich weiter um die Hausecke. Auf dem Dach standen der Vater und Coach Kaltenbachs Bruder, beide in winzigen Höschen. Sie wechselten wie in Zeitlupe ihre Posen, spannten ihre öligen Muskeln und grinsten dabei. Coach Kaltenbach stoppte den Schlitten einige Meter vor meinem Platz, stieg aus und kletterte zum Rest der Familie aufs Auto. In einer perfekt einstudierten Choreografie präsentierten sie mir Muskelgruppe für Muskelgruppe. Coach Kaltenbachs Mutter hatte wasserstoffblonde Haare und unter ihrer sicherlich künstlich gebräunten, alterswelken Haut kontrahierten sich eindrucksvoll perfekte Bauchmuskeln. Im Takt der Musik, es war ein beschwingter amerikanischer Schlager, formierten sie sich zum großen Finale. Die Eltern

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