Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Gorillas. Der Käfig sah aus wie ein gekachelter Swimmingpool ohne Wasser. Einer der Gorillas saß mit dem Rücken zu den Besuchern und hatte einen Sack über dem Kopf. Mein mittlerer Bruder las etwas von einer am Käfig angebrachten Tafel vor: »Das ist Tunga. Er ist erst zwei Jahre alt und hier in Hagenbeck geboren. Hier steht’s: ›In Gefangenschaft geboren‹.« Mein ältester Bruder sagte: »Mein Gott, so ein armes Schwein!« Woraufhin ihn mein mittlerer Bruder in seiner besserwisserischen Art korrigierte: »Das kann man nicht sagen, Bruderherz. Ein Gorilla kann kein armes Schwein sein! Das ist sprachlich ungeschickt. Totaler Nonsens!« Ich sah diesen sitzenden Gorilla im Sack, von dem nur die haarigen Fußrücken herausragten, dachte an den toten Elvis Presley, dessen Tod mir keiner glauben wollte, und hörte meine Brüder sprechen. Da ereignete sich etwas Eigenartiges: Die in sich abgekapselten Eindrücke fransten aus, verschmolzen miteinander und wurden eins. Ich stand im Affenhaus in Hamburg und wusste, ich würde diesen Moment, dieses Gespräch niemals vergessen. Mir war, als hätte ich Lupen auf den Augen, Mikrofone in den Ohren, einen verfeinerten Geruchssinn. Ich nahm die Gegenstände um mich herum in einer Plastizität wahr, die mir neu war. Ich sah die Gesichter, die eigentlich vertrauten Gesichter meiner sprechenden Brüder, meine den Gorilla mitleidig beäugende Mutter, ich sah sie alle! Doch wie zum ersten Mal. Das sind die Menschen, die dir am nächsten sind! Und doch hast du sie dir noch nie richtig angesehen, dachte ich. Ich hörte den Gorilla unterm Sack atmen und roch ihn durch das Glas hindurch, roch seine unergründliche Fremdheit, ja, ich roch seine Traurigkeit. Ich hörte mich selbst sprechen: »Glaubst du, Mama, der Gorilla ist glücklich?« »Ich weiß nicht. Vielleicht. Er kennt es ja nicht anders.« Mein ältester Bruder sah mich lakonisch an: »Also, in Gefangenschaft geboren und mit ’nem Sack überm Kopf. Klingt für mich nach einem echt glücklichen Leben.«
Immer, wenn ich von da an Elvis Presley hörte, dachte ich an den Gorilla Tunga, und sah ich Gorillas, dachte ich an Elvis Presley. Diese Erinnerung hatte erst viele Jahre später ihr haarsträubendes Finale. Ungefähr dreißig Jahre danach war ich wieder in Hagenbecks Tierpark. Nicht mehr als Kind mit meinen Brüdern und meiner Mutter, sondern als Vater mit meiner Tochter. Wir gingen in das Affenhaus und mich traf der Schlag: Da saß ein Affe, abgewandt, mit einem Sack über dem Kopf, und auf der Tafel stand: »Tunga wurde in Gefangenschaft geboren und ist unser ältester Primat.« Meine kleine Tochter klopfte an die Scheibe, rief »Runter mit dem Sack! Dreh dich um! Ich will dich sehen!«, und ich dachte an Elvis Presley.
Nach diesem Gefängnisbesuch wusste ich nicht, was ich tun sollte. Randy Hart! Ihm schreiben oder nicht? Ich hatte es versprochen. Ich hatte genickt. Ich wartete eine Woche. Eine zweite. Nach drei Wochen schrieb ich ihm eine belanglose Karte, fragte ihn, wie es ihm denn so ginge, und wünschte ihm alles Gute. Ich schrieb ihm auf Deutsch, so wie er es von mir verlangt hatte, aber ohne Absender.
Mit meinen Gasteltern verstand ich mich gut, nur mit Don wurde es von Woche zu Woche schlimmer. Ich war einiges von meinen Brüdern gewohnt, aber ihre Gemeinheiten relativierten sich durch friedliche, ja liebevolle Momente der Gemeinsamkeit. Doch Don hatte ganz offensichtlich entschieden, dieses ganze Jahr hindurch, in dem ich direkt neben seinem Zimmer leben und schlafen sollte, sich nicht einen Millimeter auf mich zuzubewegen. Er ignorierte mich und gab mir Tag für Tag klar zu verstehen, dass ich ihm unwillkommen war. Ich kam in die Küche und sah, wie er sich eine frisch aufgebackene Pizza aus dem Ofen nahm. Ich fragte ihn, ob ich ein Stück abbekommen könnte. Er blinzelte mich durch seine Stirnfransen hindurch missbilligend an. »Yes, sure!« Er nahm ein Messer. »Just a little one, please«, sagte ich. Er schnitt mit dem Messer akkurat das Innere der Pizza heraus. Trennte den gewölbten Pizzarand von der üppig belegten und goldbraun überbackenen Pizzascheibe. Diesen Ring, diesen hartgebackenen Pizzarandring, legte er mir auf meinen Teller. Als Gipfel der Gemeinheit hatte er noch, bevor er mit seinem Pizzastück, der rindenlosen Köstlichkeit, in seinem Zimmer verschwand, durch diesen Ring hindurchgeschaut, mich angesehen und fies gelächelt.
Im Keller stand ein Poolbillardtisch. Wie unendlich gerne
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