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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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hätte ich dort gespielt. Meine Güte, ein eigener Poolbillardtisch im Keller! Doch Don war der gnadenlose Verwalter der Billardkugeln. Wenn ich ihn im Keller spielen hörte, die Kugeln lockend aneinanderklackerten, hinunterging und fragte, ob ich mitspielen dürfe, sagte er nur: »I prefer to play alone!«
    Ursprünglich hatte jeder der drei Gastbrüder sein eigenes Pferd besessen. Als der älteste, Bill, ausgezogen war, hatte er sein Pferd verkauft und von dem Geld eine Reise gemacht. Genauso hatte es auch Brian, der mittlere, getan. Das letzte Pferd, das auf dem vergatterten, staubigen Präriegeviert gelangweilt in den Wind blinzelte, war Dons Pferd. Es hieß Mr. Spock, da es angeblich spitze Ohren hatte. Alle drei Namensgeber waren Crewmitglieder des Raumschiffs Enterprise gewesen. Nie, so hatte es mir mein Gastvater freimütig erzählt, hatte sich Don um dieses Pferd gekümmert. Geritten hätte er es nur ein einziges Mal.
    Als ich zu Mr. Spock ging, war es Abend. In der Ferne über den Bergen kreuzten sich zwei Kondensstreifen zu einem himmelüberspannenden X. Die Weite dieser Landschaft legte sich als leichter Druck auf meinen Kopf. Ich hatte stets die Landschaft zu Hause, den schleswig-holsteinischen Himmel, als weit und offen empfunden. Doch es war kein Vergleich zu dieser Leere, die die Ausdehnung des eigenen Ichs zusammenschrumpfen ließ. Ich fühlte mich winzig klein in dieser Weite. Bei mir zu Hause gab es immer nur ein Wetter zur Zeit. Hier in Laramie tummelten sich in der Weite des Himmels gleichzeitig alle möglichen Wolkenformationen. Ich stand am Gatter von Mr. Spock und sah über den Rocky Mountains ein Gewitter mit Blitzen und grauen Regenschleiern, während weiter links über einer Ebene am wolkenlosen Himmel die Sonne unterging. Ich drehte mich um. Vor mir zig in ordentlicher Formation dahinziehende Schäfchenwolken, rosa überhaucht. In einem anderen Himmelsfeld gigantische, weiß wabernde Wolkenmassive, die sich wie im Zeitraffer unermüdlich verwandelten. Sich übereinander- und ineinanderschiebende Kumuluswolkenberge. Direkt über mir ein graues Wolkenskelett mit Wolkenwirbeln und -rippen. Unter diesem ganzen Spektakel stand ungestriegelt und gelangweilt Mr. Spock. Ich rief seinen Namen und schnalzte mit der Zunge. Er ließ seinen Kopf hängen. Obwohl er weit weg stand, sah ich, dass er seine Ohren nach hinten gelegt und mich gehört hatte. Am Abend fragte ich Don, ob ich Mr. Spock reiten dürfe. »Try and die!« war seine kryptische, aber eindeutig unfreundliche Antwort.
    Fast jeden Tag lief ich nach dem Tennistraining runter zum Gatter. Aus dem grün gesprengten Garten brachte ich ihm frisch gemähtes Gras mit. Es war das einzige Gras weit und breit. Schon mehrmals hatte mein Gastvater beim »The Beautiful Yard Contest« den ersten Preis gewonnen. Täglich kam ich an den Urkunden in unserem dunklen Flur vorbei. Ich winkte Mr. Spock mit dem Grasbüschel zu und rief: »Na komm!«, oder auch auf Englisch: »Look what I’ve got for you! Lecker, lecker green grass!« Das gefiel dem Pferd gar nicht. Es legte die Ohren an und schnaubte ins strohige Präriegras. Es war hin und her gerissen zwischen seiner Ablehnung und seiner Neugierde, seinem Heißhunger auf das frische Gras und seinem Misstrauen. Mr. Spock wurde richtig böse. Trabte nervös im Kreis. Kam ein Stückchen näher, wieherte, scharrte mit einem Vorderhuf. Ich überlegte, ob ich ihm das Gras über den Zaun werfen sollte. Das würde dir so passen, dachte ich und streute es vor dem Gatter auf den Boden. Wütend galoppierte Mr. Spock auf mich zu. Er sah mich an. Mit gesenktem Kopf. Ich musste lachen, denn er sah in diesem Moment genauso aus wie mein Gastbruder Don. Die gleichen Stirnfransen, der gleiche blasierte Blick, die gleiche affektierte Art den Kopf zu schütteln. Das ganze Wesen des Pferdes genauso verschlagen wie das meines gehässigen Zimmernachbarn. Und so war es auch ein winziger Triumph über Don, das Gras außerhalb des Zaunes, unerreichbar, aber gut sichtbar liegen zu lassen und zu gehen.
    Wo genau mein Ehrgeiz herkam, dieses Pferd, diesen schlecht gelaunten ungepflegten Gaul, freundlich zu stimmen, weiß ich nicht. Täglich ging ich zu ihm und lockte ihn mit frischem Gras und sprach mit ihm. Wie einem drittklassigen Pferdeflüsterer gelang es mir, Mr. Spock durch ausgeklügelte Pferdepädagogik zu ersten Anzeichen von Zuneigung zu verführen. Bei Don war ich chancenlos, doch das saftige Gras und meine Engelsgeduld

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