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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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knieten, die Brüder standen. Wie antike Statuen verharrten sie bewegungslos, gespannt bis in die feinste Faser ihrer Körper. Das Lied war vorüber, ich klatschte, sie sprangen wie eine Zirkusfamilie vom Auto herunter, nahmen sich an den Händen, verbeugten sich, und über ihnen kreisten die Adler. Kurz bevor wir losfuhren, kam die Mutter mit einer Schüssel voller Steaks. Ich dachte: Jetzt noch Grillen? Wird das nicht ein bisschen spät? Sie nahm einen der Fleischlappen und warf ihn aufs Dach. Dann den nächsten. Lautlos stürzten die Adler hinab, große Raubvögel mit weißen Puscheln über den Krallen und gelben Schnäbeln. Sie schnappten sich geschickt die Steaks vom Wellblech und segelten davon. Coach Kaltenbachs Vater sagte: »That’s my wife. Other people feed birds, she’s feeding eagles.« Zum Abschied kniff er mir prüfend in den Oberarm und fragte: »Made in Germany?«
    Als ich und Coach Kaltenbach zurück nach Laramie fuhren, wurde es bereits dunkel. Wolkenschatten über der Prärie. Viel Himmel. Wir redeten kaum. Ich sah zu ihm herüber. Er zuckte rhythmisch mit seinen Bizepsen zur Countrymusic. Da kam ein Song von Elvis Presley, »In the Ghetto«. Und schlagartig fiel mir ein, an wen mich der haarige Rücken des Gefangenen, der seine ganze Familie getötet hatte, erinnerte:
    Meine Mutter, meine beiden älteren Brüder und ich machten einen Ausflug nach Hamburg in den Zoo: Hagenbecks Tierpark. Ich war zehn Jahre alt. Mein Vater blieb wie immer zu Hause. Während er uns verabschiedete, konnte er die Freude darüber, den Tag alleine, ohne seine drei Söhne und seine Frau zu verbringen, kaum verbergen. Immer wieder sagte er »Fahrt vorsichtig!« oder »Grüßt mir die Affen!«, öffnete, obwohl noch keiner seine Schuhe anhatte und jeder noch etwas für die lange Fahrt suchte, die Haustür und scheuchte uns sorgenvoll aus dem Haus. Mein ältester Bruder durfte schon vorne sitzen. Er bestimmte über die Musik im Radio. Mein mittlerer Bruder saß neben mir, las durch seine dicke Hornbrille hindurch in einem Buch. Wir erreichten den Zoo gegen Mittag. Jeder von uns hatte seinen eigenen Rucksack dabei. Wir kauften unsere Eintrittskarten und wollten gerade hineingehen, als mein ältester Bruder sagte: »Oh, ich habe, glaub ich, vergessen, das Radio auszuschalten. Ich hab es nur leise gedreht, aber nicht ausgemacht.« Meine Mutter wollte zurückgehen. Ich sagte ihr, dass ich das gern übernehmen würde. Ich mochte diese Art von Aufgaben. Ich mochte dieses Gefühl, wenn ich für Momente auf mich allein gestellt war. Alleine zum Bäcker gehen. Für eine Stunde alleine zu Hause sein, ein Honigbrot schmieren und es im Ehebett meiner Eltern essen. Meine Mutter sagte: »Lieber nicht: Der Parkplatz ist so riesig. Du weißt doch gar nicht, wo wir geparkt haben!« »Doch, weiß ich!«, sagte ich. Mein mittlerer Bruder sagte: »Lass ihn doch, wenn er unbedingt will. Wir warten gleich hier bei den Flamingos.« Meine Mutter gab mir den Autoschlüssel. Ich lief durch den Ausgang über den großen Parkplatz und fand das Auto. Schloss auf und setzte mich hinter das Lenkrad. Ich drehte am Radioknopf. Ja, es war noch an. Es lief Musik und für eine Zeit lang spielte ich Autofahren, kurbelte am Lenkrad herum. Da wurde die Musik unterbrochen: »Soeben erreicht uns die Nachricht, dass Elvis Presley tot aufgefunden wurde. Wir melden uns wieder, wenn wir Genaueres wissen.« Ich stellte das Radio aus, stieg aus, schloss sorgfältig ab und rannte zum Eingang. Ich erklärte dem Mann bei den Drehkreuzen, dass ich nur etwas vergessen hatte, und zeigte auf meine Brüder und meine Mutter, die ich bei den Flamingos stehen sah. Er ließ mich hinein. Ich rannte zu ihnen und rief: »Elvis Presley ist tot!« »Sehr witzig!« »Doch wirklich, ich habe es gerade im Radio gehört!« »Wieso hast du denn Radio gehört? Na, wo wollen wir denn zuerst hin?« »Echt! Elvis Presley ist tot!« Mein mittlerer Bruder gab mir leichte Kopfnüsse, so, als würde er an einer Tür anklopfen, und sagte: »Hallo, jemand zu Hause?« Meine Mutter fragte: »Wollt ihr zuerst zu den Löwen oder den Bären?« Mein mittlerer Bruder wollte zu den Spinnen und Insekten, mein ältester Bruder zu den Fischen. »Elvis ist tot!«, rief ich immer wieder, doch keiner glaubte mir. Ich versuchte, mit meinen Brüdern zu wetten, aber sie hatten keine Lust. Vor jedem Tierkäfig beharrte ich auf dem Tod von Elvis Presley. Wir kamen ins Affenhaus. Hinter den großen Scheiben dösten die

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