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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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in diesen Trog musste. Dass man Verletzungen kühlen sollte, wusste ich, das leuchtete mir ein, aber warum den ganzen Patienten einfrieren, auf null Grad runterkühlen? Ich wurde hereingerufen. Im Arztzimmer stand ein Junge in einem weißen Kittel. »Where is the doctor?«, fragte ich. »I am the doctor! Lay down.« Ich zeigte ihm meine drei Finger. Er betastete sie behutsam mit seinen Kinderfingern. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass das der Arzt sein sollte. Vielleicht durften hier Schüler ihren Berufswunsch testen? Er band mir eine Plastikschürze um und erklärte mir rasend schnell, was zu tun sei. Ich verstand kaum etwas. Er nahm eine Nadel und erhitzte sie über einem Feuerzeug. »Don’t move!« Mit der Spitze der Nadel bohrte er mir durch den Nagel. Es roch nach verkohlem Huf wie beim Pferdebeschlagen. Als er die Nadel herauszog, spritzte aus dem kleinen Loch wie aus einem geöffneten Ventil das Blut heraus. Ein hoher Strahl, auf seine Plastikschürze, bis zum weißen Metallschrank und über den Boden. Der juvenile Arzt murmelte »Damned!« und presste mir das Blut aus meiner Fingerkuppe. Das erste bummernde Nagelherz war verstummt. Die beiden anderen Nägel wurden durch dieselbe Prozedur vom Überdruck befreit. Er redete auf mich ein. Schnell und beiläufig, während er mit mehreren auf den Boden geworfenen Papiertüchern mit der Schuhspitze mein Blut aufwischte. Ich verstand nur, dass mir mit etwas Glück die Fingernägel nicht ausfallen würden. »And now«, sagte der junge Arzt, »get in the icewater!«
    Als ich zum Trog kam, sah ich drei Kerle im Wasser liegen. Bürstenhaarschnitt, Kautabak kauend, voller Vorfreude darauf, dass ich mich gleich zu ihnen ins Eiswasser hineinquälen würde. Doch wenn es etwas gab, was mich nicht beeindruckte, dann war es das: Kälte. Ich zog mich aus und ließ mich ganz selbstverständlich in den Trog gleiten. Die Kurzgeschorenen nickten mir voller Hochachtung zu und einer sagte: »Respect!«
    Von meinen gequetschten Fingernägeln musste ich mich verabschieden. Einer nach dem anderen löste sich vom verheilten Nagelbett. Unter jedem abgeklemmten Nagel kam ein heimlich schon herangewachsener neuer Nagel zum Vorschein. Für Wochen waren die schutzlosen Fingerkuppen überempfindlich. Sahen seltsam nackt aus mit diesen weichen Babynägeln.
    Mit Mr. Spock musste ich wieder von vorne anfangen. Er sah mich, legte die Ohren an und drückte sich in der hintersten Ecke des Geheges herum. Doch ich wusste, dass er wiederkommen würde. Ich setzte mich auf meinen alten Platz, auf den oberen Stamm des Gatters, und wartete. Wie gut die Luft war. Diese dünne, klare Luft. Nach einer Woche stand er wieder vor mir und stupste mich mit seiner zarten Schnauze an. Diesmal ließ ich mir mehr Zeit. Als ich ihn das erste Mal striegelte, zuckten unter seiner Haut überall kleine Muskeln. Mr. Spock stand da, etwas breitbeinig, und rührte sich nicht. Jedes Mal, wenn ich die Bürste über sein zotteliges, nach und nach samtiger werdendes Fell bewegte, verfiel er in diese Glücksstarre. Schob wohlig seinen schwarzlila Pimmel raus und ließ sich von mir striegeln.
    Ich schnitt ihm die Mähne, sodass er endlich freie Sicht hatte. Das mochte er nicht, da zeigte er mir sein Pferdegebiss, schüttelte sich und schnappte nach mir. Ich nahm seinen Kopf in beide Hände, legte meine Finger um seine gewaltigen Kiefer und meine Stirn an seine Stirn: »Du spinnst wohl. Damit fangen wir nicht wieder an!« In seinen gewölbten Augen sah ich Einsprengsel und unter den gespiegelten Wolken eine warme braune Tiefe. Zwei Wochen lang führte ich ihn ohne aufzusitzen mit dem Westernsattel auf dem Rücken im Gatter herum. Mein Gastvater stand am Zaun und sagte: »Finally friends!«
    Eines Morgens wachte ich auf und es hatte geschneit. Schon seit Wochen war das den kurzen Sommer ignorierende Weiß von den baumlosen Berggipfeln langsam die Hänge hinunter zu den Waldrändern gekrochen und hatte die Prärie erreicht. Nun hatte der Winter in einer einzigen Nacht das ganze Hochplateau erobert. Ich ging hinaus auf die Holzveranda. Alles hauchdünn mit Pulverschnee bedeckt. Mir kam es so vor, als ob erst jetzt, unter dieser feinen Schneedecke, die Landschaft zu ihrem Ursprung fand. Dem Sommer war es nie gelungen, die Kälte zu vertreiben, der Herbst brachte Stürme und Regen. Oft war mir die Landschaft uninteressant vorgekommen: eine fahle Einöde. Erst durch den Schnee fand diese Landschaft zu sich selbst. Die klirrende

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