Alle Toten fliegen hoch: Amerika
erwärmten Grad für Grad die vereiste Pferdeseele. Ich setzte mich auf den oberen Stamm des Gatters, der klebrige Harzspuren an meinem Hosenboden hinterließ, hielt das Gras in der Hand und wartete. Meine Gastmutter kam dazu: »Nobody has touched him for years. Be careful, he might bite you!« Wie sich Mr. Spock durch unzählige Schichten seines Misstrauens wand, wie er, wenn ich wieder mal das Gras auf den anwachsenden Haufen vors Gatter warf, schnaubend scharfe Kurven galoppierte, ermutigte mich. Der Moment, als er sich verwandelte, sich komplett verwandelte, kam völlig unvorbereitet. Ich saß auf meinem Stamm. Meine rechte Pobacke schmerzte, da mich am Nachmittag die Ballmaschine erwischt hatte. Es ging ein schwacher kühler Wind. Mr. Spock rieb sich auf der gegenüberliegenden Seite grob und grantig die Blesse an einem Pfahl. Wie es mir zur Gewohnheit geworden war, rief ich ihm etwas zu: »Come on, don’t be so … stur. Hier gibt’s schönes frisches Gras! Look here! Lecker, lecker green grass!« Da hob das Pferd den Kopf, sah in den Himmel, stellte die Ohren auf, schüttelte sich und kam munter, sehr jugendlich, in leichtem Trab auf mich zugelaufen. Ich hielt ihm das Gras hin und Mr. Spock fraß es aus meiner Hand. »Na, du Verrückter«, flüsterte ich, »da bist du ja endlich!«
Zwei Tage später, er kam jetzt immer gleich angelaufen, wenn er mich sah, klopfte ich ihm vom Zaun herunter zum ersten Mal den Hals. Ich fand im Stall einen verstaubten Beutel mit Bürsten und einem Kamm. Ich kletterte über den Zaun und stellte mich vor ihn. Mr. Spock stupste mich mit seiner weichen Nase an, blähte die Nüstern. Ich sprach leise mit ihm, ließ ihn an meiner Hand schnuppern. Als ich ihm die Fransen seiner hippiehaften Mähne von den Augen streichen wollte, schnappte er blitzartig zu, biss mir mit seinen angefaulten, ekelhaft gelben Zähnen auf die Finger. Ich riss meinen Arm weg, wodurch das Pferd erschrak, sich auf die Hinterläufe stellte und direkt über meinem Kopf mit den Hufen in die Luft boxte. Ich ließ mich panisch fallen und rollte unter dem Zaun hindurch in Sicherheit. Wie ein Wildpferd im Wahn, vorne und hinten ausschlagend, sprang Mr. Spock in seinem Präriegehege herum. Minutenlang. Ich stand auf, brüllte ihn an: »Mein Gott, bist du ein Arschloch, blödes, hinterhältiges Arschloch!« Und dann noch mal, um ganz sicher zu sein, dass er mich verstand: »Asshole, bloody asshole!« Da gab es noch jemanden, dem ich diesen Satz genauso gern entgegengebrüllt hätte. Ich sah mir meine Hand an. Drei blau verfärbte, zerquetschte Nägel. Es tat so weh! Die Nagelbetten wie unter Schock, nur unentschlossen blutend.
Ich versuchte, die Verwundung vor Stan und Hazel zu verbergen, und auch Don wollte ich diesen Sieg unter keinen Umständen gönnen. Beim nächsten Tennistraining rief mich Darren Warren, der Tennistrainer, zu sich und fragte mich, warum ich keinen einzigen Ball treffen würde. Ich hielt ihm wie für einen Handkuss meine Finger hin. Drei geschwollene lila Würste mit tiefschwarzen Nägeln. Der stets ein wenig taumelnde Darren Warren taumelte noch ein bisschen stärker. Er fragte: »Cardoor?« Ich antwortete: »No, horse.« Doch das mit dem Auto fand ich eine gute Idee und erzählte es am Abend zu Hause. Don glaubte mir nicht, schüttelte den Kopf und sagte nur: »Cars don’t bite!«
Darren Warren schickte mich gleich zum Schularzt. Unter jedem meiner drei zerquetschten Nägel pochte ein eigenes kleines Herz. Ich kam ins Vorzimmer der Schularztpraxis. Hier stand der sagenumwobene Eiswassertrog. Sobald sich ein Sportler der Laramie Highschool verletzt hatte, wurde er hierhergeschickt. Basketballer mit verstauchten Fingern, Footballspieler mit Prellungen, Leichtathleten mit Zerrungen in den Oberschenkeln, Turner, die von den Ringen rücklings neben die Turnmatte geknallt waren: Jeder musste in diesen Eiswassertrog hinein. Alle halbe Stunde kam, das hatte mir Rob aus dem Tennisteam erzählt, ein Assistenzarzt mit zwei großen Eimern voller Eiswürfel und schüttete sie in den Trog.
Als ich das Vorzimmer betrat, standen ein Hochspringer, auf einem Bein wie ein Reiher, und ein Footballspieler, beide nackt, um den Trog herum. Der Footballspieler ließ sich ins Wasser gleiten und verzog keine Miene. Das ermutigte den Hochspringer. Vorsichtig tunkte er seine langen Beine in die Eiswürfel – zuckte entsetzt zurück. Das habe ich nie begriffen: Warum man, egal welche Verletzung man hatte, immer ganz
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