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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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jahrhundertealte bizarre Kalkpanzer eingeschlossen. Stan, Hazel und ich standen direkt an der Kante eines Wasserfalls, in der Regenbogen werfenden Gischt, und ohrenbetäubend stürzte das Wasser hinab. An dieser Stelle, so konnte ich an einer Informationstafel lesen, hatte sich vor vielen, vielen Jahren ein berühmter Trapper folgenden Gedanken notiert: »I realize my own littleness, my helplessness, my dread exposure to destruction, my inability to cope with or even comprehend the mighty architecture of nature.«
    Wir fuhren durch eine saftige Graslandschaft, in der Büffel weideten. Da sahen wir am Straßenrand geparkte Autos und Menschen, die aufgeregt in die Ferne deuteten. Stan hielt an, wir stiegen aus. »What’s going on?«, fragte Hazel einen Mann, der sein Kind auf den Schultern trug. Der Mann zeigte in die Ferne: »Look over there!« Wir sahen seinem Finger hinterher. Stan schien etwas entdeckt zu haben: »My gosh, what are they doing?« Der Mann antwortete: »Nobody knows!« Da sah ich zwei Menschen zwischen den grasenden Büffeln herumwandern. Leicht gebückt mit Wander- oder Krückstöcken spazierten sie durch die Herde hindurch. Es war strengstens verboten, die Straßen zu verlassen, nur an bestimmten Stellen durfte man aus dem Auto steigen und an gesicherten, umzäunten Plätzen die Büffel beobachten. Doch diesem älteren Pärchen schien das vollkommen egal zu sein. Sie hatten Rucksäcke auf und wanderten wie die ersten Menschen durchs Paradies. Die Büffel mit ihren bulligen Köpfen, das konnte man selbst aus der großen Entfernung erkennen, schauten dem greisen Paar nach und grasten einfach weiter. Es wurde laut gerufen: »Hey, come back! You are in great danger. You are risking your life!« Wir stiegen wieder ins Auto und fuhren weiter.
    Am Abend vor unserer Rückreise nach Laramie besuchten wir eine Kettensägenshow. Drei Männer in hochgekrempelten Holzfällerhemden, alle mit leichtem Bauchansatz und klobigen Sicherheitsschuhen mit zerkratzten Metallkappen, betraten den von mehreren provisorischen Tribünen umbauten Platz. In der Mitte lag ein im Durchmesser mannshoher und etliche Meter langer Baumstammriese. Von meinem Sitzplatz in der ersten Reihe aus erkannte ich unzählige Jahresringe im Stammanschnitt. Die Männer klappten die Visiere ihrer Helme mit integrierten Ohrenschützern hinunter und warfen die Motorsägen an. Eine Stoppuhr stand auf drei Metallbeinen und ein Ansager rief durch ein plärrendes Mikrofon: »… three, two, one, zero – GO !« Kreischend fraßen sich die Sägen in den Stamm. Die Männer verschwanden im wirbelnden Sägemehlsturm. Von allen Seiten her bearbeiteten sie das Holz. Eine anfeuernde Musik schepperte aus den riesigen Boxen. Ich sah, wie bei jedem Beat die Bassmembran vor- und zurückpumpte. Holzstückchen flogen herum. Einer von den Männern legte seine Säge weg und schlug Keile ins Holz. Mit einem Brecheisen wurden ganze Blöcke herausgestemmt. Das Knarren und Ächzen mischte sich mit der Musik und dem Geschrei der Sägen. Jetzt erst entdeckte ich, dass die Uhr rückwärts lief und nur noch drei Minuten und zwanzig Sekunden übrig waren. Ich wäre gerne gegangen, weggerannt, so laut und nervtötend war es. Die Musik erhöhte anfeuernd die Taktzahl und trieb den Sekundenzeiger vor sich her. Ich saß sehr nah am Geschehen und fürchtete mich vor den aggressiven, schrillen Sägen. Die drei Männer sägten schneller und schneller. Wischten sich mit den Arbeitshandschuhen den Staub vom Visier. Wieder zählte der Ansager einen Countdown: »… three, two, one, zero – STOP !!« Die drei Männer traten zurück. Die Zuschauer jubelten. Vor uns stand auf dem dick mit Holzmehl und Spänen bedeckten Boden ein Kanu. In dem Kanu kniete ein Mann mit einer Mütze mit Biberschwanz, wie ich sie von Lederstrumpf kannte, und hielt ein Ruder seitlich über den Kopf erhoben, bereit, es ins Wasser zu tauchen. Sogar die Gesichtszüge der Holzskulptur waren klar zu erkennen. Ein Trapper um die vierzig. Die Zuschauer riefen »Hooray!«, hörten gar nicht auf zu klatschen und zu rufen. Die Männer verbeugten sich zu allen vier Seiten. Doch der Höhepunkt ihrer Show kam erst noch. Neun Kettensägen wurden in eine Reihe gelegt und angeworfen. Mit Klebeband wurden die Sicherheitssperren außer Kraft gesetzt. Die Männer begannen mit einer einzigen Kettensäge, die sie sich im Dreieck stehend zuwarfen. Dann steigerten sie die Anzahl. Zum Schluss flogen alle neun Sägen jaulend und Salti

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