Alle Toten fliegen hoch: Amerika
endlich mit ihr schlafen zu dürfen. Ja, ich stellte mir vor, sie in einer Mischung aus Verzweiflung und Begierde zum ersten Mal ganz zu erobern. Ich bekam Sehnsucht nach ihren herrlich großen Brüsten. Ich würde ihre Bedenken und Ängste einfach mit meinem Schmerz ersticken und ihr Zögern wegweinen! Eine Stunde später klingelte es und meine Mutter rief mich. Ich hörte die Stimme meiner Freundin im Flur. Es ging nicht. Ich rief von oben hinunter: »Es tut mir leid, aber ich kann nicht.« Meine Freundin rief meinen Namen. Ich brüllte: »Lass mich in Ruhe!«
Mein Vater verhinderte, dass zur Beerdigung meines Bruders die schlagende Verbindung aus Gießen anreiste. Achtzig Verbindungsbrüder wollten, obwohl sie meinen Bruder nur ein, zwei Mal gesehen hatten, mit Kappen, Degen und Schärpen am Grab stehen, singen und einen Kranz niederlegen. Vom Requiem, von der anschließenden Beerdigung weiß ich fast nichts mehr. Die Kirche war brechend voll. Meine Großeltern waren aus München gekommen. Ich saß zwischen meinem Bruder und meiner Mutter. Wir hielten uns an den Händen. Die ganze Andacht über hörte ich meine Mutter stoßweise atmen und ich hatte Sorge, sie würde ohnmächtig werden. Der Weg zum Grab. Einer der Sargträger hatte den Hosenstall offen. Ich und mein übrig gebliebener Bruder schaufelten das Grab zu. Das wollten wir so.
Auf einem Spaziergang über das riesige Psychiatriegelände traf ich Ferdinand, einen Patienten, den ich gut kannte. Schon von Weitem wusste ich, dass er es war, da er einen sehr eigenwilligen Gang hatte. Eine Art Passgang mit eckigem Armschlenkern. Er sah mich und hob die Hände. Wir waren noch ein gutes Stück voneinander entfernt. Er rannte auf mich zu und blieb mit schreckgeweiteten Augen vor mir stehen. Ich sagte: »Hallo, Ferdinand. Was ist denn los?« Er starrte mich an und dann fasste er mir vorsichtig ins Gesicht. Stupste mich an wie eine Erscheinung, strich mir mit seinen Fingerkuppen über die Wangen und die Nase. Mit versagender Stimme hauchte er: »Du lebst?« Ich begriff nicht, was er meinte. »Was? Wie, ich lebe?« Mehrmals wiederholte er seine Frage und streichelte dabei mein Gesicht. »Du lebst? Du lebst?«, und dann fing er an zu tanzen. Warf die Arme gen Himmel, verdrehte die Knie und rief laut: »Du lebst! Du lebst!« Er umarmte mich, drückte mich mit einer Kraft, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte, und schrie seinen Satz heraus: »Du lebst!« Er hüpfte um mich herum, grunzte und tanzte. Da begriff ich. Er hatte mich mit meinem Bruder verwechselt. Gekannt hatte er uns ja beide. Und verschwunden waren wir auch beide. Mein Bruder nach Gießen und ich nach Amerika. Und nun sprang er um mich herum und rollte wie ein mit geheimnisvollen Drogen zugedröhnter Medizinmann mit den Augen und feierte meine Auferstehung.
Ich entschloss mich, nach Wyoming zurückzufliegen. Einmal fragte mich mein Vater, tief über eine Sessellehne gebeugt: »Willst du vielleicht nicht doch lieber bei uns bleiben?« Aber ich wollte zurück, unbedingt.
Und schon drei Wochen später brach ich wieder nach Laramie zu meiner Gastfamilie auf. Das Einzige, was ich von meinem Bruder mitnahm, war der Pullover für fünfhundertvierzig Mark. Es war ein hässlicher Pullover aus grüner Wolle, mit dicken braunen Strickwülsten. Aber ich trug ihn von nun an fast immer und überall. Drei Tage vor meiner Abreise war ich mit meinem Vater nach Husum gefahren. In Husum hatte ich ein paar Wanderschuhe für Amerika bekommen. Danach fuhren wir an die Nordsee. Ich zog meine neuen Schuhe an, um sie ein wenig einzulaufen, und hakte mich bei meinem Vater unter, dessen Anziehsachen inzwischen um sein Traumgewicht von neunzig Kilo herumschlabberten. Früher hatte er in seinem Dufflecoat wie eine Wurst ausgesehen und das »proper« genannt. Jetzt sah dieser von meinem Vater so geliebte Mantel aus, als wäre er geliehen. Ausgeliehen von einem kräftigen, großen, wohlgenährten Mann. Wir liefen oben auf dem Deich. »Was war bis jetzt das Tollste in Amerika?«, fragte mich mein Vater. »Ich weiß nicht. Der Besuch im Gefängnis. Das war schon Wahnsinn.« »Und da durftest du einfach so rein?« »Ja klar. Ich war mit einem Lehrer da. Also der war mal mein Lehrer.« »Wieso war?« »Der hat sich mit einem dicken Mexikaner geprügelt. Im Unterricht und ist rausgeflogen.« »Und mit dem hast du das Gefängnis besucht?« »Der ist total nett. Sein Bruder ist Gefängniswärter. Die sind beide Bodybuilder und die Eltern
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