Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Meine Mutter hatte am Sonntag ihr Spezialgericht gekocht, Hühnerfrikassee mit Kapern. Keiner von uns bekam einen Bissen herunter. Das Huhn war faserig, leicht bitter, die Sauce schleimig, die Kapern glitschig und der Reis matschig verklumpt. Auf dem Klo sitzen: Noch nie hatte es in meiner Familie, nachdem jemand das Klo benutzt hatte, so bestialisch gestunken wie in diesen Tagen der Trauer. Beißender Kotgeruch. Duschen: Wir alle hatten es immer geliebt. Jetzt war es eine lästige Notwendigkeit geworden. Früher hatte mein Vater immer lange kalt geduscht, dabei laut bis hundert gezählt, »Ahhhh« und »Ohhh« gemacht und sich die Hände auf Bauch, Beine und Po geklatscht. Jetzt stand er totenstill unter dem eiskalten Wasserstrahl und fand keine Kraft, den Hahn zuzudrehen. Auch ich hasste es, in diesen Tagen zu duschen. Mich mit gewaschenen Haaren, sauber und erfrischt, mit einem rauen Frotteehandtuch abzurubbeln, war wie eine Missachtung des Bruderverlustes. Meine Eltern bekamen scharfkantige Gesichter, sahen aus, als hätte ihnen der Schmerz mit dem Fingernagel Furchen ins Gesicht gezogen. Sogar der Hund wurde dünner und würgte lustlos an seinem Futter herum. Dabei liebte er eigentlich den ungewaschenen Pansen. An einem Sonntagmorgen beschlossen wir, sauber zu machen. Mein Vater wusch Wäsche und verfärbte mit einer roten Sporthose von mir eine komplette Waschmaschinenladung. Noch Monate später trug ich Unterhosen in zartem Hellrosa. Meine Mutter stellte den laufenden Staubsauger zurück in den Schrank. Ich kam in den Flur, hörte ein brummendes Geräusch und fand tatsächlich den laut saugenden Staubsauger im Abstellschrank. Mein übrig gebliebener Bruder und ich räumten verkrustete Töpfe, Teller, Gläser und Besteck in den Geschirrspüler. Als ich den transparenten Plastikbeutel aus dem Abfalleimer unter der Spüle hervorzog und die schwarz verfaulten Tomaten, die mit Schimmel überzogenen Kaffeefilter, die ausgelutschte Leberwursthülle sah, wurde mir schlecht. Mit weit von mir weggestrecktem Arm und abgewandtem Gesicht brachte ich den tropfenden Sack hinaus zur Mülltonne. Ekel und Trauer, Leere und Verzweiflung, das wurde alles eins.
Es ging mir schlecht, aber lange nicht so schlecht wie meinen Eltern. Oft lag ich da und träumte mich zurück nach Amerika. Ich hatte schon viel erlebt und diese Erlebnisse waren kraftvoll und vital, wollten gedacht und erinnert werden. Und bald schon würde die Basketballsaison beginnen. Meine Mutter nahm Beruhigungsmittel. Nicht oft, aber hin und wieder. Dann bekam ihre Trauer etwas Schwebendes, fast Unheimliches. Sie saß mit geschlossenen Augen in der Wintersonne und lächelte. Auf einem Tischchen im Wohnzimmer standen ein Bild meines Bruders und eine Blumenvase mit einer welken Rose, und eine Kerze brannte: seine Taufkerze.
Kurz bevor er sein Medizinstudium in Gießen beginnen wollte, hatte ihm mein Vater fünfhundert Mark gegeben, um sich neu einzukleiden. Er sollte sich von diesem Geld eine Hose kaufen, zwei, drei Hemden, einen Pullover und vielleicht noch ein paar Schuhe. Mein Bruder fuhr nach Flensburg und kam mit einer einzigen, vornehm aussehenden Papiertüte zurück. Meine Eltern wollten sich die Sachen vorführen lassen. Aber ein grüner Strickpullover war alles. Meine Mutter fragte: »Wie, und sonst hast du nichts gefunden? Das kann doch nicht alles sein?« »Doch, doch«, antwortete mein Bruder, »ich hätte schon noch was gefunden. Die haben da schöne Sachen. Aber das Geld hat nicht gereicht. Ich hab sogar noch selber was dazugezahlt.« Der italienische Strickpullover hatte fünfhundertvierzig Mark gekostet. Meine Eltern waren fassungslos. Richtig sauer wurde mein Vater allerdings erst, als mein Bruder sagte: »Ich hab halt einen gewissen Standard.« »Was hast du?« »Na, einen gewissen Standard.« Wenn wir uns jetzt daran erinnerten, lachten wir.
Von meinen Freunden sah ich niemanden. Jeden Tag wurden durch unseren Briefkastenschlitz zwanzig bis dreißig Briefe geworfen. Beileidsbekundungen der erschütterten Außenwelt. Der ganze Flur war bedeckt mit Trauerpost. Ungeöffnet lag sie in Stapeln auf der Fensterbank. Meine Freundin rief an und heulte am Telefon. Heulte so sehr, dass ich kaum verstand, was sie sagte. »Warum … rufst du mich denn nicht an? Wie lange bist du denn schon …? Ich … ich … komm gleich vorbei.« Sie würde versuchen, mich zu trösten. Wollte ich sie sehen? Für einen Moment schien es mir möglich, als ein Trostbedürftiger
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