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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Kälte passte viel besser zur kargen Gegend als die unentschiedene, schwächliche Wärme. Die ganze Zeit hatte ich den Winter gefürchtet, jetzt freute ich mich auf ihn.
    Ich lag in meinem Zimmer und hörte Musik. Dire Straits: »These mist covered mountains – are a home now for me – but my home is the lowlands – and always will be …« Das Telefon klingelte nebenan im Wohnzimmer. Hazel kam zu mir herein: »It’s for you. Your dad.« Am Dienstagabend? Wir telefonierten eigentlich immer nur sonntags. Ich sagte: »Hallo, Papa.« »Hallo, mein lieber, lieber Sohn!« Seine Stimme war ganz leise. Ich wusste sofort, dass etwas Furchtbares geschehen war. »Was ist denn, Papa?« »Es ist etwas ganz, ganz Schlimmes passiert. Ach …« »Ja?« Ich hörte ihn weinen. »Was denn?« Er erzählte mir, dass mein mittlerer Bruder mit dem Auto verunglückt sei – tot.
    Ich ging zurück in mein Zimmer, setzte mich auf die schwankende Matratze meines Wasserbetts, sah zu Boden und wunderte mich über die verschlungenen Muster des Teppichs, die mir noch nie aufgefallen waren. Es klopfte. Hazel kam herein und fragte: »What happened?« Ich sah sie an, wollte antworten, aber mir fiel kein einziges englisches Wort mehr ein. Ich versuchte es. Ein furchtbares Gestammel. Ich suchte nach den Wörtern, sagte auf Deutsch: »Mein Bruder … ääh … mein … bro… mein … äh … my …« Hazel sah mich an. Zögerte, wollte wieder gehen. Blieb doch. Ich musste im Wörterbuch nachsehen. Mit zitternden Fingern suchte ich mir den Satz zusammen. Hazel sah meine Not und wollte helfen. Es dauerte schrecklich lange. »My … brother … is … deaf.« Ich verwechselte tot und taub. Sie fragte mich: »Your brother is deaf?« Ich fand ›Autounfall‹. Da begriff sie. Taub durch Autounfall klang unwahrscheinlich. Schließlich fragte sie mich. »Your brother ist dead?« Ich nickte. »Got killed in a car accident?« »Ja«, sagte ich erleichtert. »Ja« – auf Deutsch. Sie setzte sich neben mich. Eine sanfte Welle schwappte durch die Matratze, hob mich leicht. Lange saßen wir so da, dann ließ Hazel mich allein. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Schon in diesem ersten Moment war ich entsetzt von der Gleichgültigkeit der Gegenstände, die mich umgaben, dieser Nachricht gegenüber. Die Stuhlbeine schienen in den Holzfußboden hineingewachsen zu sein. Unmöglich, den Stuhl zu verschieben. Stan kam zu mir ins Zimmer, schwarz angezogen, setzte sich, legte mir den Arm um die Schulter. »I’m so sorry.« Hazel kam zurück, auch schwarz angezogen, und setzte sich an meine andere Seite. So saß ich da, mit meinen schwarz angezogenen Gasteltern auf einem Wasserbett in Laramie, und der Pudel leckte meine Socken ab, bis ich die Nässe an den Zehen spürte.
    Später fuhren wir in die Kirche. Es war keine Messe, aber Stan hatte einen Schlüssel. Ich setzte mich, und Stan ging mit einem riesigen Streichholz von Kerze zu Kerze und zündete sie an. Jedes Mal, wenn er am Altar vorbeikam, verbeugte und bekreuzigte er sich. Dann verschwand er kurz und Musik ertönte. Singende Mönche. Hohe Stimmen erfüllten das Kirchenschiff. Stan und Hazel setzten sich in die Bank hinter mir. Hazel legte mir ihre Hand auf die Schulter und ließ sie dort. Ich sah mir den Jesus an. Ich hatte ihn mir während jeder Messe angesehen und scheußlich gefunden. So einen bunten Jesus hatte ich noch nie gesehen. Er hatte rosa Bäckchen, blitzblaue Augen und einen roten Kirschmund. Sein leidendes Lächeln war eher ein spöttisches Grinsen. Der Faltenwurf seines Lendenschurzes glänzte wie eine abwischbare Tischdecke. Er sah aus wie aus Plastik. Vielleicht war er es sogar. Ich saß da und dachte an meinen Bruder.
    Als ich diese Todesnachricht bekam, waren wir kurz davor, zu einer Reise in den berühmten Yellowstone Park aufzubrechen. Da es bis zu meinem kompliziert gebuchten Rückflug nach Deutschland noch vier Tage dauern würde, fuhren wir trotzdem los. Endlose Autofahrten, endloses Hineinstarren in diese überwältigend schöne Landschaft. Ich mit der Stirn an der Scheibe. Büffelherden und Geysire. Sich weit öffnende Taleinsichten. Wasserfälle und Canyons. Nie ist mir Landschaft trostloser vorgekommen. Und noch heute denke ich eigentlich immer, wenn ich überwältigende Landschaften sehe, an meinen toten Bruder.
    Wir fuhren auf einer schmalen Straße – Stan hatte, als wir von der Hauptstraße abgebogen waren, von einem Geheimtipp gesprochen – einen steilen Pass hinauf, waren

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